© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Ausflucht vor sich selbst
Kino I: Der Dokumentarfilm „Zonenmädchen“ zeigt den Werdegang von Dresdner Abiturientinnen des Jahres 1990
Sebastian Hennig

Sabine Michel hat sich aus dem komfortablen Miniaturklassentreffen ihrer Abiturstufe einen Dokumentarfilm gedrechselt. Es mangelt diesem an Gestaltung und Distanz. Fünf Freundinnen, die 1990 in Dresden die Schule beendeten, begegnen sich nach zwei Jahrzehnten wieder in Paris. Sie reisen weiter nach Berlin und Dresden.

Vera lebt ständig in Paris. Sie unterrichtet Deutsche an einem traditionsreichen Gymnasium. Die Kamera verfolgt die elegante blonde Frau auf der Fahrradfahrt durch die Innenstadt zu ihrer Arbeitsstätte. Sie wirkt wie die perfekte Pariserin, die Mimikry ist gelungen. Und doch erklärt sie die Bemühungen um völlige Anpassung für gescheitert. Im Klassenzimmer steigt Vera auf einen Stuhl, um die lose Ecke der Deutschlandkarte wieder an der Wand zu befestigen. Von ihrer Herkunft aus dem Ostblock hat sie den Schülern aus Scham noch nie erzählt.

Claudia pendelt als erfolgreiche Rechtsanwältin zwischen Berlin, Paris und New York. Einmal fragte sie einen amerikanischen Anwaltskollegen, ob er ihr auch vertraut hätte, wenn er von ihrer Herkunft aus der DDR gewußt hätte, und erhält ein klares „Nein“ zur Antwort. Sie vermutet pauschal und leicht schuldbewußt: „Das DDR-System hat es ja auch befördert, daß ein gewisses Schleimertum an die Oberfläche kommt.“ Die Regisseurin fragt: „Wieviel ‘Zone’ ist dabei noch in uns und stellt sich das nicht zunehmend als Qualität heraus? Ist ‘Zonenmädchen’ nicht viel mehr eine Marke geworden als ein Makel.“

Wackelige Schmalfilmaufnahmen holen Bilder aus der Kindheit ans Licht. Die Eltern von Sabine Michel waren Hundertprozentige. Als Botschaftsmitarbeiter lebten sie in Guinea. Wieder daheim wurde bei der Tochter eine Wirbelsäulenverkrümmung festgestellt. Jahrelang mußte sie ein Korsett tragen. Als sie in die Erweiterte Oberschule kommt, darf sie es endlich ablegen.

Es dauert nur zwei Jahre noch, ehe auch das Land seine Einsperrung abstreift. Sofort nach der Maueröffnung reisen die fünf Mädchen jeweils nach Paris. Paris wurde in den achtziger Jahren der Zielpunkt aller Mädchenträume, hervorgerufen durch die französische Teenager-Romanze „La Boum“. Im Dresdner Elbtal war kein Westfernsehen zu empfangen, und als dieser Film im Fernsehen der DDR lief, lichtete sich schlagartig eine visuelle Schneise in die schöne freie Welt. Das gewöhnliche pubertäre Schmachten nach Liebeserfüllung vermengte sich mit Verheißungen von Weltläufigkeit und der Erfüllung materieller Wünsche.

Inzwischen haben alle hinreichend Erfahrungen gemacht. Die Psychologin Claudi wirkte der Neugier und vor allem des Geldes wegen eine Weile als Fachberaterin bei einer unterhaltenden Fernsehschau mit. Und bekennt dazu: „Wer durch Dreck schwimmt, an dem bleibt Dreck hängen.“

Auf der Bahnreise nach Dresden diskutieren die Frauen über das Wesen des Kapitalismus. Die Arrivierteren weisen diese Bezeichnung als marxistisch-leninistische Terminologie entschieden zurück. Distanzierung von der eigenen Vergangenheit, ja deren völlige Auslöschung ist Bedingung für das Fortkommen. Eine hergebrachte Übung in Deutschland. Alle wirken sehr angepaßt. Es wird schwadroniert davon, daß mit vierzig das Buch des Lebens aufgeschlagen ist und das Gefühl herrscht, am Anfang zu stehen und große Dinge sich mit einem ereignen werden.

Die verdeckte Mitteilung des Films besteht darin, daß seit Öffnung der „Zone“ nichts wirklich Prägendes passierte. Die Zeit danach hat offenbar nicht mehr geformt, sondern nur verbreitert, erhöht und aufgeblasen. Das Myzel der Persönlichkeit ist nicht mehr gewachsen.

Eine eigenwillige Figur in diesem Kreis ist Verusha. Die gleichermaßen burschikose, spröde wie schwermütige Frau fährt leidenschaftlich gern Motorrad, führt eine Kneipe und heiratet schließlich ihre Freundin. An ihrem Beispiel spitzen sich die allgemeinen Widersprüche zu. Und mit ihrer vierschrötigen Art verkürzt sie die Tatsachen gern auf Grundsätzliches. Ihr Fazit lautet: „Was so die Wende überlebt hat, überlebt alles andere ooch.“

Männer spielen kaum eine Nebenrolle in dem Film. Sie sind etwas, was man sich anschafft und wieder ablegt, wenn es sich als nicht mehr tragbar erweist. Die Filmautorin berichtet darüber, wie sie sich ein völlig neues Leben mit einem portugiesischen Mann schuf. Einige Jahre lebte sie in Lissabon, bis sie dann mit der Tochter wieder zurück nach Deutschland zog.

Mit ihrer Mutter stöbert sie in alten Fotografien. Beim Anblick eines Bildes, das ihren Großvater in Uniform zeigt, überfällt sie der Schrecken: „Mein Großvater war Nazi.“ Der Mann ist nach dem Krieg in einem sowjetischen Lager umgekommen. In ihm könnte sie sich vielleicht selbst erkennen. Denn an der eigenen Geschichte gibt es nichts Unpassendes. So ist die erschreckte Zurückweisung nicht zuletzt eine Ausflucht vor dem eigenen Wesen.

Am Ausgangspunkt angekommen, blicken die Frauen schließlich wie Touristen vom Rathausturm herab auf die Stadt Dresden.

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