© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Pankraz,
G. W. Leibniz und die Synapse als Portier

In der erkenntnistheoretischen Literatur akkumuliert sich Unmut über die Gehirnforscher. Die wollen erklärtermaßen „endlich das menschliche Bewußtsein am Kragen packen“ (Giulio Tononi) und durchstreifen zu diesem Zweck schon seit langem alle möglichen Gehirnregionen, stoßen dabei aber immer nur wieder auf Synapsen, Synapsen, Synapsen und noch einmal Synapsen. Unser Gehirn, so haben sie inzwischen errechnet, enthält über 100 Billionen Synapsen, und es werden täglich mehr. Doch von Bewußtsein keine Spur.

Synapsen sind materiale Verknüpfungen, über die eine Nervenzelle in Kontakt steht zu einer anderen Zelle – einer Sinneszelle, Muskelzelle, Drüsenzelle usw. Sie dienen der Übertragung von Erregungen und können auch selber Informationen speichern. Man könnte sie als Türsteher, gewissermaßen als Portiers des neuronalen Hotelbetriebs bezeichnen. Sie müssen ordentlich funktionieren, damit der Betrieb reibungslos abläuft, haben jedoch selber nichts zu sagen. Andererseits kann der Hoteldirektor, eben das Bewußtsein, sie bei Versagen nicht einfach feuern. Er ist auf sie angewiesen.

Unter Bewußtsein versteht man in der einschlägigen Forschung „komplexes Selbstbewußtsein“, geistige Vergegenwärtigung eines Ich, das sich vom Insgesamt der durch Nerven vermittelten Sinneseindrücke abzuheben versteht und über seine Stellung in der Welt nachdenken kann. Es herrscht zur Zeit Einigkeit darüber, daß diese Art von Bewußtsein exklusiv dem Menschen vorbehalten sei; auch höchstentwickelte Tiere, Delphine, Papageien oder Schimpansen, verfügten nicht über diese Art von Bewußtsein.

Es gibt aber keine Gehirnregion, die als „verantwortlich“ für „komplexes Selbstbewußtsein“ namhaft gemacht werden könnte. Alle diesbezüglichen Versuche enden im Nichts, respektive drehen sich im Kreise, landen immer wieder bei den Synapsen, deren wahre Anzahl nur weiter aufgehellt und in diverse Verbindungen gebracht werden müsse. Die Masse wird’s eines Tages schon machen – so die verbissene Überzeugung hochsubventionierter Neurologen wie etwa Christof Kochs. Quantität vor Qualität.

Wäre es nicht fruchtbringender, man machte sich endlich klar, daß man in einer Sackgasse herumspaziert, und wendete sich verheißungsvolleren Perspektiven zu? Der große Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und seine „Monadenlehre“ müßten, findet Pankraz, neu bedacht werden. Leibniz nannte den materialistisch-atomistischen Ansatz zur Deutung von Bewußtseinsprozessen eine „faule Philosophie“. Eine Ich-Einheit sei keine Zusammenballung von Atomen, sondern sie sei geistbestimmt, ein Widerschein jenes Unendlichen, das die Welt manifestiere und regiere.

Monade also statt Synapse, eine nicht ausgedehnte, unteilbare Einheit, die von atomaren Vorgängen in lebendigen Körpern zwar lahmgelegt, aber nicht vernichtet werden kann. Sie enthält de facto die Welt in nuce, entwickelt sich aber in den verschiedenen Individualitäten je nach ihren Lebensumständen verschieden stark oder schwach. Entwicklung bedeutet für Leibniz dabei nicht das Entstehen von grundsätzlich Neuem, sondern „nur“ die Entfaltung des je Vorhandenen.

Leibniz löst das Problem der Verbindung von Körper und Ich-Bewußtsein also, indem er darlegt, daß alle Monaden, obwohl sie, jede für sich, ganz selbständig sind, „koordiniert wirken“. Gott (oder der Weltwille oder „das schwärende Nichts“ à la Konfuzius) hat von vornherein für „prästabilierte Harmonie“ gesorgt. Es existiert ein kosmischer Dualismus zwischen Körperwelt und Ich-Welt. Jede Sphäre hat ihre spezifischen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten nebst verschiedenen Forschungsmethoden, um sich der Wahrheit anzunähern.

Strikt abgelehnt wird jede Form von gegenseitiger Überwältigung. Die Physik kann nicht durch Theologie ersetzt werden, wie das einige „Kreationisten“ in den USA versuchen, die Theologie aber auch nicht durch die Physik, wie das der aktuelle „Monismus“ des Westens betreibt, mit seinem ewigen Refrain: Das Bewußtsein ist „nichts als“ ein bloßes Bündel blinder Antriebe und Synapsensprünge, der Mensch ist „nichts als“ eine komplexe Maschine. Es gibt in der Wissenschaft eine doppelte Wahrheit, hat sie immer gegeben und wird sie immer geben.

Für Leibniz spielten die Monaden übrigens auch in der Physik eine Rolle, genauer: in der „Teilchenphysik“, wie wir heute sagen. Wenn es die Wissenschaft darauf anlegt, die Wahrheit im immer Kleineren zu suchen und die lebendigen Phänomene deshalb immer weiter aufspaltet, bis es einfach nicht mehr weitergeht, dann wird am Ende, so Leibnizens feste Überzeugung, kein materiell identifizierbares Teilchen mehr stehen, sondern die Monade, in der sich das Weltgeheimnis verbirgt, ein „flavour“, wie die avancierte Teilchenwissenschaft es nennt, also ein bloßer Duft oder Geschmack von unauslotbarer Tiefe.

Bekanntlich lag der Mann mit seinen präzisen Ahnungen völlig richtig, und das sollte ihn auch für die moderne Bewußtseinsforschung interessant machen. Zwar war er strenger Logiker durchaus, ein Computerexperte avant la lettre, dessen Ideen zu den Grundlagen der digitalen Welt unserer Tage gehören. Gleichzeitig jedoch war er einer der energischsten Konkretdenker, die wir je hatten. Jegliches logische Denken bewegte sich seiner Meinung nach nur in einer „Welt der Möglichkeiten“, weil die „vérités éternelles“ allein Gott vorbehalten seien.

Nichts ist in der Wirklichkeit mit einem anderen gleich, lautete sein Credo. Demgemäß ließ er bei den herbstlichen Gartenunterhaltungen am Hannoverschen Hof gern die Prinzessinnen und ihre Damen gefallene Blätter suchen, die miteinander identisch seien. „Ihr werdet keines finden“, prophezeite er den lustig protestierenden Mädchen, und behielt recht. Die Hirnforscher aber sollten bedenken: Wenn schon alle Baumblätter untereinander verschieden sind, so um so mehr alle menschlichen Bewußtseins-Ichs. Kein Synapsen-Portier wird je etwas daran ändern können.

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