© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

„Da wollen Sie hingehen?“
Besuch in der Kaschauer Zigeunersiedlung: Verwahrlost, verdreckt und ohne Strom – das schwierige Erbe eines „Integrationsexperiments“ der Kommunisten
Hinrich Rohbohm

Der Empfang ist frostig. Bitterböse Blicke, Schimpfwörter fallen. In Luník IX, einem Wohngebiet in der ostslowakischen Stadt Kaschau (Košice) ist Besuch von „Weißen“ unerwünscht. 7.000 Zigeuner leben hier in einem halben Dutzend Plattenbau-Hochhäusern. Oder zumindest in dem, was von den Ende der siebziger Jahre ursprünglich für Studenten erbauten Wohnungen noch übriggeblieben ist. Nicht-Zigeuner haben den Ort schon vor langer Zeit verlassen. Der Grund dafür ist nicht zu übersehen.

Zerbrochene oder gänzlich fehlende Fenster. Keine Heizungen, keine Wasserhähne. Der Putz an den Gebäuden ist an den meisten Stellen heruntergebrochen, die Hausfassaden in einem erbärmlichen Zustand. Türen sind zum Teil ausgebrannt oder fehlen ganz, die Rasenplätze vor den Gebäuden mit Müll übersät. An einer stinkenden und vermüllten größeren Wasserpfütze spielen kleine Kinder, rühren in der modrigen Brühe mit Ästen herum. Plastiktüten und -flaschen, Dosen, Klopapierrollen und Papierfetzen liegen quer verstreut vor den Wohngebäuden. Aus einem angrenzenden Waldstück dringt stechender Geruch von Exkrementen in die Nase.

In den siebziger Jahren hatte das damalige kommunistische Regime den Zigeunern ihr traditionelles Nomadenleben genommen. Menschen ohne festen Wohnsitz waren schwer zu kontrollieren, entzogen sich der ideologischen Durchdringung. Im Rahmen eines „Integrationsexperiments“ wurden die Zigeuner in Luník IX zwangsangesiedelt. Seitdem leiden sowohl die ihrer traditionellen Lebensweise beraubten Zigeuner wie auch Nachbarn.

Heute meiden die meisten Kaschauer die Siedlung. „Da traut sich kaum einer hin“, sagt eine junge Frau der JUNGEN FREIHEIT. „Da wollen Sie hingehen?“, ist die entsetzte und zugleich ungläubige Frage eines besorgt blickenden Mannes um die Dreißig. „Niemand hier geht zu den Zigeunern“, sagt ein Gastwirt aus der Altstadt. „Die Leben in ihrer eigenen Welt, ich kenne keinen aus meinem persönlichen Umfeld, der zu denen Kontakt hat“, erzählt ein Student.

Es sind zwei Welten, die in Kaschau aufeinanderprallen. Auf der einen Seite die frisch sanierte Innenstadt mit ihren schmucken, renovierten Kirchen, den neu errichteten Straßen und Herrschaftshäusern, die an den einstigen Glanz der habsburgischen Doppelmonarchie anknüpfen.

Ein Flair, das erahnen läßt, warum Kaschau derzeit den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ trägt. Die zweitgrößte Stadt der Slowakei zeigt sich hier von ihrer Schokoladenseite. Auch die zahlreichen Plattenbausiedlungen in der Peripherie der Stadt haben ihr tristgraues Image aus kommunistischer Zeit überwunden.

Die Schattenseite der Stadt befindet sich etwa zwanzig Autominuten außerhalb des historischen Stadtzentrums. Das Taxi hält noch an der Schnellstraße. In das Wohngebiet hineinfahren ist nicht drin. Aus Angst vor Diebstahl oder Schäden am Wagen. Hier befindet sich jener Teil der ostslowakischen Metropole, über den die Kaschauer nur ungern reden. Bis zu fünfzehn Zigeuner leben in Luník IX in einem Haushalt. Miete zahlt niemand. Die Stadtverwaltung hat längst die Stromversorgung gekappt. Heizung und Wasser sind ebenfalls abgestellt.

Die Blicke auf Fremde sprechen für sich. Mißtrauisch. Beinah schon haßerfüllt. Beim Herausholen der Fotokamera kommt Aggression hinzu. Junge Männer beginnen, mit Müll in Richtung des Kameraobjektivs zu werfen. Erst sind es nur Flaschendeckel. Dann folgen Dosen, Glasfaschen, Steine. Die Wurfgeschosse landen im Gras, verfehlen ihr Ziel nur um wenige Meter.

Reden möchte niemand. Ein Familienvater kommt vorbei, zusammen mit Frau und Kindern. Der Mann gibt sich aufgeschlossener, während seine Frau sich schnell abwendet. Doch schon bei den ersten Fragen über sein Leben in der Siedlung verschließt auch er sich einem Gespräch.

Neben den Wohnsilos rottet ein Fußballplatz vor sich hin. Der einstige Rasen ist längst von Gestrüpp überwuchert, die Tore stehen verrostet da. Luník IX grenzt an eine Schnellstraße, dessen Fußweg für die Zigeuner die Verbindung zum nächstgelegenen Supermarkt ist. Eine junge Zigeunerin schiebt einen Kinderwagen vor sich her. Statt einem Baby ist das Gefährt mit Holzspahnplatten überfrachtet, mit denen sie nach Luník IX zurückkehren will. Sprechen will auch sie nicht. Beim Anblick der Kamera dreht sie sich weg, rennt mit ihrem Kinderwagen im Laufschritt und mit eingezogenem Kopf auf die andere Straßenseite.

Der Betrieb im Supermarkt kann nur durch ein starkes Aufgebot an Sicherheitskräften aufrecherhalten werden. Zu häufig seien die Diebstähle und Sachbeschädigungen, sagen Anwohner, die inzwischen einen abgrundtiefen Haß auf die Zigeuner entwickelt haben. Sie hätten die Gegend vermüllt, ihre Autos gestohlen oder beschädigt, sie angepöbelt und tätlich angegriffen, empören sie sich.

Einer der Supermarkt-Anwohner, ein Mann mit Halbglatze und rötlichem Schnauzbart, redet nicht. Seine Botschaft ist dennoch zu verstehen. Arme und Hände ausbreitend, gibt er ein Geräusch von sich, daß offenbar eine Explosion simulieren soll, ehe er zornig in Richtung Luník IX zeigt.

„Den ganzen Komplex abreißen und die Bewohner nach Brüssel umsiedeln“, schlägt ein weiterer aufgebrachter Nachbar vor. Eine Anspielung auf die jüngste Kritik der EU-Kommissarin für Bildung und Kultur, Androulla Vassiliou. Die Ehefrau des einstigen von der kommunistischen Partei Zyperns (AKEL) aufs Schild gehobenen zypriotischen Staatspräsidenten Georges Vassiliou hatte sich über die Kaschauer empört, weil die in einem an Lunik IX angrenzenden Wohngebiet eine Mauer errichtet hatten, um einen bei den Zigeunern beliebten Durchgangsweg zu schließen. Die EU-Politikerin hatte in einem Brief an Kaschaus Bürgermeister den sofortigen Abriß der Mauer verlangt. Sie sei diskriminierend, verstoße gegen die Menschenwürde.

Eine ältere Frau, deren Wohnung sich direkt neben besagter Mauer befindet, kann über solche Äußerungen nur den Kopf schütteln. „Die Dame sollte doch mal eine Woche hier bei uns leben, dann denkt sie anders über die Zigeuner“, meint sie.

Die EU-Kommissarin dürfte sich offenbar auch nicht ausreichend über die örtlichen Gegebenheiten informiert haben. Denn bei der kritisierten Mauer handelt es sich allenfalls um ein Mäuerchen. Zwei Meter hoch, gerade einmal dreißig Meter lang und auf einer Anhöhe gelegen, umschließt sie lediglich einen Parkplatz, grenzt an beiden Seiten an Mehrfamilienhäuser. Von Lunik IX ist das Bauwerk fast zwei Kilometer entfernt.

„Für die Zigeuner war das hier früher eine Abkürzung“, erklärt Rudolf Bauer, Bürgermeister des Nachbarbezirks von Luník IX. Der 56jährige, der väterlicherseits sudetendeutsche Vorfahren hat, hatte die Errichtung der Mauer gemeinsam mit den politischen Stadtvertretern seines Bezirks beschlossen. Und sich damit den Unmut der Europäischen Union zugezogen.

An seiner Haltung hat das jedoch nichts geändert. „Die Anwohner finden unsere Entscheidung richtig“, sagt er der JF und zeigt auf den Parkplatz. Jetzt können die Bürger wieder unbesorgt ihre Autos hier abstellen. Das war vorher nicht mehr möglich“, erklärt Bauer. Diebstähle und Sachbeschädigungen an den Fahrzeugen seien an der Tagesordnung gewesen.

Im Gebüsch hinter der Mauer läßt der weit verstreut herumliegende Müll erahnen, wie es vorher ausgesehen haben muß. „Seit die Mauer da ist, herrscht Ruhe“, betont Bauer. Ein Schmunzeln über das Protestschreiben aus Brüssel kann sich der Politiker nicht verkneifen. Man merke eben, daß Brüssel von den örtlichen Problemen weit entfernt sei, merkt er süffisant an.

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