© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Der Flaneur
Flucht vor dem Berserker
Bente Holling

Der Tag war wirklich heiter hier draußen am äußersten Rand der Stadt. Was haben wir gelacht. Nur dumm, daß ich jetzt noch den Heimweg vor mir habe. Auf die Stunde Fahrradfahren könnte ich jetzt gut verzichten. Aber ein Taxi ist mir zu teuer, und die Fahrer nehmen nicht gerne Fahrräder mit. Also los.

Es ist schon dunkel. Die Straßen sind hier völlig ruhig, kaum ein Auto. Wie spät ist es eigentlich? Ich habe mein Handy zu Hause gelassen. Da steht er, an der Bus­haltestelle, im Licht der Straßenlaterne.

Seltsamer Typ. Um die Fünfzig. Sieht aus wie ein Zimmermann, mit Schlaghose und Schlapphut. Aber die schmuddelige Schimans­ki-Jacke paßt nicht dazu. Was für ein Riesenkerl! Ich halte an und frage ihn freundlich nach der Zeit. Er schaut auf seine Uhr und antwortet: „Viertel nach elf.“ Ich bedanke mich. Dann passiert es! Er murmelt leise vor sich hin: „Hasse keine Uhr?“ Sein Tonfall wird lauter und aggressiver: „Kannz dir keine Uhr leisten, oda was?!“ Dann brüllt er: „Keine Uhr?!!“ Mein Gott, was hat der denn? Nichts wie weg!

Blöderweise stehe ich in einer ungünstigen Position, das Fahrrad zwischen den Beinen macht mich unbeweglich. Ich brauche einen Moment zu lange, um aufzusteigen und anzufahren. Da ist er schon bei mir und packt das Rad am Gepäckträger: „Keine Uuuuhr!!!“ Hilfe, der spinnt!

Der Berserker hebt das Hinterrad mit Bärenkräften hoch, ich bin hilflos. Dann schleudert er es mit Riesenwucht auf den Boden. Bevor er nochmals zupacken kann, gelingt mir die Flucht. Jetzt aber in die Pedale gestiegen! Ich höre ihn noch herumtoben, aber er verfolgt mich nicht. Was für ein Irrer, denke ich hundertmal. Vielleicht sollte ich wieder anfangen, Armbanduhr zu tragen. Oder zumindest daran denken, das Handy einzustecken.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen