© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

„Oh helft mir doch in meiner Not ...
... sonst ist der bittre Frost mein Tod!": Die Legende von Sankt Martin, der seinen Mantel teilt
Bernd Rademacher

Es ist dunkel, klamm und kalt. Ein typischer Herbstabend, den man am liebsten vor dem Kamin verbringt. Dennoch harren einige Dutzend Kinder im Grund- und Vorschulalter aus. Sie halten ihre Laternen fest und schnattern ungeduldig. Doch die Attraktion läßt noch auf sich warten.

Dann beginnt das Schauspiel: Ein Reiter in prachtvoller Römerrüstung trabt auf einem großen Reitpferd heran. Er ist in einen roten Umhang gehüllt. Das Pferd muß ziemlich nervenstark sein, so dicht umringt von den vielen Kindern.

In der Mitte der Szenerie hält der Reiter vor einer Gestalt, die am Boden kauert. Es ist ein frierender Bettler. Und daß er friert, ist nicht gespielt, bei den sechs Grad und seinen Lumpen aus Sackleinen. Der römische Reiter zieht ein großes, blankes Schwert und zerteilt damit seinen roten Mantel in zwei Hälften. Die eine reicht er dem Bettler, der sich dankbar darin einhüllt.

Damit ist die Vorstellung vorbei. Die Kinder folgen dem Reiter, schwenken ihre Laternen und singen: „Sankt Martin ritt mit leichtem Mut, sein Mantel deckt ihn warm und gut. Im Schnee, da saß ein armer Mann, hatt’ Kleider nicht, hatt’ Lumpen an. Oh, helft mir doch in meiner Not, sonst ist der bittre Frost mein Tod. Sankt Martin zog die Zügel an, sein Roß stand still beim armen Mann. Sankt Martin mit dem Schwerte teilt, den warmen Mantel unverweilt ...“

Die nachgestellte Szene soll sich so vor 1.679 Jahren im französischen Amiens abgespielt haben. Der etwa 18jährige Legionär Martinus aus dem heute ungarischen Pannonien war Elitesoldat der römischen Armee in Gallien. In einer kalten Winternacht soll er auf einen Bettler getroffen sein, der zu erfrieren drohte. Mit seinem Schwert zerschnitt er seinen Mantel und gab dem Frierenden eine Hälfte. In der nächsten Nacht, so die Legende, erschien ihm Christus im Traum – bekleidet mit der Mantelhälfte.

Martinus wurde vom Soldaten der römischen Armee zum „miles christi“, zum Soldaten Gottes, zog sich zunächst als Priester in die Einsiedelei zurück und gründete später in einer verlassenen römischen Stellung die Abtei Saint-Martin de Ligugé bei Poitiers, die als „erstes Kloster des Abendlandes“ gilt. Bei der Landbevölkerung der Provinz Touraine an der Loire war Martinus wegen vorbildlicher Askese und sozialen Engagements ausgesprochen beliebt.

Das zeigt sich in zahlreichen Ehrungen: Er ist unter anderem der Schutzpatron Frankreichs, der Slowakei und der Stadt Mainz. Er ziert das Wappen zahlreicher Städte wie Aschaffenburg, Bad Ems, Bingen, Lorch, Olpe etc. und etlicher Orte namens St. Martin in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er ist der Schutzheilige der Armen, der Reiter, der Gefangenen, der Abstinenzler und der Soldaten.

Die Legende erzählt weiter, daß ihn das Volk zum dritten Bischof von Tours proklamierte. Doch Martinus wollte nicht. Um dem Amt zu entgehen, versteckte er sich in einem Gänsestall, aber das Federvieh verriet ihn. Das Gedenken an dieses Verdienst kostet bis heute etliche „Martinsgänse“ das Leben. Am 11. November 397 wurde der mit 81 Jahren Verstorbene unter großer Anteilnahme in Tours beigesetzt.

Seither wird am 11. November der Martinstag begangen. Die Laternen basteln die Kinder vorher in der Schule oder im Kindergarten. In vielen Regionen ist besonderes Gebäck üblich, meist aus süßem Hefeteig mit Hagelzucker oder Rosinen; in Westfalen der „Stutenkerl“, im Sauerland die Martinsbrezel, in Süddeutschland die „Martinsgans“ aus Laugenteig.

Bei den größten Martinsumzügen am Niederrhein und im westfälischen Bocholt an der deutsch-niederländischen Grenze strömen jährlich tausende Zuschauer zu dem Event. In dörflichen Regionen müssen sich manchmal mehrere Gemeinden einen Martins-Darsteller teilen, sodaß einige Ortsteile organisatorisch schon am 10. oder erst am 12. November feiern.

Doch besonders in urbanen Gemeinden wird St. Martins Akt der Barmherzigkeit kaum noch traditionell mit einer „Reenactment“-Darstellung verbunden. Stattdessen wird das Martinsfest zum zufälligen „Lichterfest“ oder „Laternenfest“ ohne historischen Hintergrund. Die Kinder singen „Ich gehe mit meiner Laterne ...“, ohne zu wissen, warum sie es tun.

In Bad Homburg ging man bereits einen Schritt weiter: Eine städtische Kindertagesstätte taufte Sankt Martin politisch korrekt „aus Rücksicht auf Mitglieder anderer Kulturkreise“ in „Sonne-Mond-und-Sterne-Fest“ um. Ein Schelm, wer dabei an Claudia Roth denkt. Man wolle ja „niemanden diskriminieren“.

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