© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Im Grenzgebiet
Kindheit mit ADHS: Der Film „Kopfüber" im Kino
Sebastian Hennig

Die Entwicklungsgeschichte des blassen Jungen Sascha (Marcel Hoffmann) ist in schöne Bilder gebettet, wie die Stadt in das liebliche Tal. Am Rand von Jena lebt die vaterlose Familie im Wohnhochhaus. Der ältere Bruder hat die Lehre geschmissen. Seine Schwester paukt verbissen für die Schule. Sie will mal richtig Kohle machen. Die Mutter (Inka Friedrich) vermag bei den eigenen Kindern nur zu hospitieren und kurzatmige Parolen auszugeben.

Die erzieherische Kraft der Kindergärtnerin wird im Beruf verzehrt. So erhält der schwierige Junge einen Erziehungsbeistand (Claudius von Stolzmann). Als jener sich im Verlauf der Geschichte in dessen Wohnung Zutritt verschafft sieht er Fotos des kleinen Sohns an der Wand. Auf seine Frage zum Verbleib antwortet Herr Berger: „Paul ist bei seiner Mama in Köln.“

Bernd Sahling läßt also nichts aus in seinem Film über einen Jungen, der vielleicht selber weniger an einer Krankheit leidet, als die Umwelt in Mitleidenschaft zieht. Wie eine gute Fee im Märchen verkündet ihm die Ärztin: „Du kannst nichts dafür. Du hast ADHS.“ Glücklicherweise erklingt das Zauberwort von der „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ erst recht spät und vermag uns die Geschichte um Sascha nicht mehr zu entzaubern.

Ergreifende Ansichten von Jena durchziehen die Filmhandlung. Da werden die steilen Hochhäuser zur Zierleiste und Meßlatte für die Intensität der landschaftlichen Idylle. Die Plattenbausiedlung liegt für die Kinder näher an den trockenen Kalksteinhängen über der Saale als die Stadtmitte. Mit seiner Freundin Elli (Frieda-Anna Lehmann) radelt Sascha über Feldwege zur Baustelle der Autobahn. Das kongenial schräge Mädchen sammelt mit einem Aufnahmegerät Baulärm und Geräusche aus Schacht und Tunnel und verbindet sie zu rhythmischen Toncollagen. Sascha assistiert ihr als Klangerzeuger.

Dann muß er die Pillen schlucken. In regelmäßigen Abständen piept nun der Wecker, und mitten in der Nacht raschelt die Tablettenschachtel. Er wird davon so brav wie apathisch. Elli fragt: „Weißt du eigentlich, daß du nicht mehr lachen kannst.“ Sascha: „Lachen brauch’ ich nicht.“

Der Film läßt zuletzt offen, ob sein Weg in geordnete Sackgassen führt oder weiter in der Wildnis kreist. Es ist eine Recherche aus dem Grenzgebiet zwischen Krankheit und Charakter.

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