© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Von wegen stabil
Afghanistan: Offiziell zieht die Bundeswehr ihre Kampftruppen kommendes Jahr ab. Manche Entscheidung steht im Widerspruch zur Lage vor Ort
Hans Brandlberger

In zwei Marschkolonnen trafen am 19. Oktober die letzten 441 deutschen Soldaten des Feldlagers Kundus im Camp Marmal in Mazar-i Scharif ein. Über 500 Sicherungskräfte aus anderen Einheiten des von einem Zwei-Sterne-General der Bundeswehr geführten Regionalkommandos Nord hatten sie auf ihrem 300 Kilometer langen Weg begleitet, um Aufständische davon abzuhalten, das lohnende Ziel ins Visier zu nehmen.

Die offizielle Übergabe des nahe dem Flughafen von Kundus gelegenen Feldlagers an die afghanischen Sicherheitskräfte war bereits knapp zwei Wochen zuvor in Anwesenheit von Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) und Noch-Außenminister Guido Westerwelle (FDP) erfolgt. Über sieben Jahre lang hatte es dem seit Anfang 2004 tätigen Provincial Reconstruction Team (PRT) als Stützpunkt gedient. In seinem Zuständigkeitsbereich waren die Risiken für die deutschen Soldaten im Afghanistan-Einsatz am größten gewesen.

Auch wenn der Kernauftrag eigentlich die Unterstützung des zivilen Wiederaufbaus sein sollte, gehörten Hinterhalte, Scharmützel oder gar Gefechte zum Alltag. In Kundus, so hob de Maizière bei seiner Ansprache anläßlich der Übergabe zu Recht hervor, hatte die Bundeswehr zum ersten Mal in ihrer Geschichte kämpfen müssen. Die deutsche Öffentlichkeit konnte sich nicht mehr der Einsicht verschließen, daß ihre Streitkräfte Opfer zu beklagen hatten, für die der lange verpönte Begriff „Gefallene“ angemessen war.

Das Engagement der Bundeswehr in Kundus endete, das wollten auch die hochrangigen Festredner aus Berlin nicht allzusehr beschönigen, ohne daß sich die Hoffnungen, die man einst mit ihm verknüpfte, erfüllten. Zwar sind punktuelle und durch westliche Hilfe ermöglichte Erfolge in der Verbesserung von Gesundheitsversorgung, Bildungswesen und Infrastruktur in Afghanistan nicht zu bestreiten. Die Rahmenbedingungen stimmen jedoch auch zwölf Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes immer noch nicht.

Das Land ist, und dies gilt nicht nur für seine nördlichen Provinzen, alles andere als befriedet, die staatlichen Strukturen sind zersplittert und fragil, Korruption und Vetternwirtschaft prägen allen vollmundigen Ankündigungen von Staatspräsident Hamid Karsai zum Trotz das Bild, und ökonomisch floriert einzig die Schattenwirtschaft des Drogenanbaus, die das Land zur Nummer eins in der Versorgung des Weltmarktes mit Opiaten werden ließ.

Wie prekär die Sicherheitslage dabei gerade auch in Kundus ist, führte ausgerechnet der Tag der Übergabe vor Augen. Noch am Morgen lieferten sich Aufständische und einheimische Polizeikräfte ein Gefecht, und Aufklärungsergebnisse ließen befürchten, daß möglicherweise ein Raketenüberfall auf das Lager bevorstünde. Für den Festakt selber waren Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden, die das Mißtrauen gegenüber den „Partnern“ nicht verhehlten, denen die sogenannte Sicherheitsverantwortung übertragen werden sollte. Afghanische Kräfte durften nur mit entladenen Waffen auftreten. Zu groß erschien das Risiko, daß wieder einmal aus ihren Reihen heraus eine Attacke auf Soldaten der westlichen Schutztruppe unternommen worden könnte.

Die Region um Kundus war zwar einst die letzte Bastion der von Indien, Rußland und dem Iran geförderten Nordallianz gewesen, bevor sich diese 2001 dank amerikanischer Luftunterstützung den Weg nach Kabul zur Vertreibung der Taliban bahnen konnte. Die Macht der aus ihnen hervorgegangenen lokalen Autoritäten, mit denen die Bundeswehr zu kooperieren gezwungen war, wird allerdings nicht als gefestigt angesehen. Auch wenn die unausgegorenen und halbherzig verfolgten Bemühungen, eine Versöhnung mit den Aufständischen herbeizuführen, keine Ergebnisse zeitigen sollten, bleiben sie ein durch Militär und Polizei nicht zu bezwingender Faktor, der jederzeit und überall seine Stiche setzen kann und abseits der Städte in einigen Landstrichen de facto die Kontrolle ausübt. Zu fürchten haben diese Macht unter welcher Konstellation auch immer all jene, die mit den Isaf-Schutztruppen zusammenarbeiteten.

Das Angebot Berlins, den afghanischen Unterstützern, die sich hier exponiert haben und folglich als besonders gefährdet gelten können, Zuflucht in Deutschland zu gewähren, ist daher keine billige humanitäre Geste, sondern ein Gebot der Glaubwürdigkeit, wenn man auch in zukünftigen Auslandseinsätzen in heiklen Sicherheitslagen zu einer Kooperation mit der Zivilbevölkerung gelangen möchte. Knapp 240 Afghanen, die mit den in Kundus stationierten Kräften kollaborierten, haben das Angebot aufgegriffen. In einem wie üblich bürokratisch ausgefeilten Verfahren hat die Bundeswehr etwa 150 Antragsteller für würdig befunden. Sollte, wann auch immer, der Abzug aus Masar-i-Scharif anstehen, ist mit einer Fortsetzung des Programms und einer erheblich höheren Zahl von Betroffenen zu rechnen.

Das Asylangebot steht im Widerspruch zur politisch verordneten Lagebeurteilung, daß die Voraussetzungen erfüllt seien, den Afghanen die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit zu übertragen. Da sich die Militärs nicht berechtigt fühlen, die Frage aufzuwerfen, ob der Einsatz mitsamt der Opfer, die er forderte, nicht doch vergeblich war, richtet sich ihr Augenmerk pragmatisch darauf, ihn geordnet zu Ende zu bringen und die sich abzeichnende Nachfolgemission vorzubereiten.

Entgegen allen Unkenrufen ist der Abzug von Material und Personal – es handelt sich hier immerhin um die größte logistische Operation in der Geschichte der Bundeswehr – weitgehend reibungslos in Gang gekommen. Zunächst galt es, sich ein vollständiges Bild davon zu verschaffen, was an Ausrüstung und Gerät überhaupt in Afghanistan vorhanden ist. Dann wurde identifiziert, für welches Material es auch in Zukunft noch einen Bedarf gibt. So werden von den etwa 1.700 Fahrzeugen, die in Afghanistan im Einsatz waren, nur etwa 1.200 zurückgeführt. Die übrigen, insbesondere handelt es sich um ungeschützte Varianten des Geländewagens Wolf, verbleiben im Einsatzland. Für die afghanischen Sicherheitskräfte sind sie überwiegend nicht von Interesse, da ihre Ersatzteilversorgung zu aufwendig wäre oder aber bereits bessere Fahrzeuge zur Verfügung stehen. Daher werden sie in der Regel vor Ort verschrottet.

Die Rückführung des Materials erfolgt zu mehr als 80 Prozent auf dem Luftweg von Masar-i-Scharif in die am Schwarzen Meer gelegene türkische Hafenstadt Trabzon. Dort erfolgt die Umladung auf Schiffe, die den Seeweg nach Deutschland antreten. Für etwa zehn Prozent des Materials wurde ein Rücktransport auf der Schiene vorgesehen, der jedoch als langwierig und kompliziert gilt. Nur als besonders sensibel eingestufte Ausrüstung wird direkt von Afghanistan nach Deutschland geflogen.

Da die Bundeswehr selbst weder über Großraumtransportflugzeuge noch über eigene Schiffskapazitäten für derartige Verlegeoperationen verfügt, werden gewerbliche Dienstleister in Anspruch genommen. Dabei kann man auf bestehende Rahmenvereinbarungen mit einer russisch-ukrainischen Gesellschaft, die das Transportflugzeug Antonov An-124 zur Verfügung stellt, und einer dänischen Reederei, die für den „Gesicherten Gewerblichen Strategischen Seetransport“ (GGSS) sorgt, zurückgreifen.

Die Bundeswehr steht vor der planerischen Herausforderung, Personal und Material zu reduzieren und zugleich den Schutz der eigenen Kräfte bis zum Abschluß der Mission zu gewährleisten. Eine Präsenz in der Fläche wird damit nicht mehr möglich sein, der Auftrag von Isaf tritt, auch wenn das Mandat noch läuft, in den Hintergrund. Für den Norden Afghanistans, für den Deutschland die Verantwortung trägt, heißt dies, daß sich die Bundeswehr auf den Raum um Masar-i-Scharif konzentriert und den Schwerpunkt auf die Ausbildungsunterstützung der einheimischen Sicherheitskräfte legt. Sie leistet diese im Vertrauen darauf, eine Institution zu stärken, die langfristig für staatliche Ordnung sorgen wird. Manches spricht jedoch dafür, daß diese Rechnung nicht aufgehen wird.

Die Afghanische Nationalarmee (ANA) und die Afghanische Nationalpolizei (ANP) sind zwar hinsichtlich ihrer zahlenmäßigen Stärke beträchtlich gewachsen. Das Heft halten sie jedoch nur in den Ballungsräumen in der Hand. Zudem ist die Fluktuation des Personals groß, ihre Einheit brüchig, die Reputation in der Bevölkerung überschaubar und ihre dauerhafte Loyalität zur Regierung in Kabul nicht sichergestellt. Die Gefahr, daß die Isaf-Truppen Afghanen trainieren, die ihre Qualifikationen später in einem Bürgerkriegsszenario auf verschiedenen Seiten einbringen können, ist nicht zu unterschätzen.

Die von der Nato im Grundsatz beschlossene Folgemission „Resolute Support“ soll sich ab Anfang 2015 ganz auf die Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte beschränken. Sie ist nach dem Prinzip „Nabe und Speiche“ konzipiert. Ihr Zentrum wird in der Hauptstadt liegen, von ihr aus werden die Verbindungen in einige wenige regionale Zentren laufen. Eines von ihnen soll weiterhin Masar-i-Scharif sein, die Bundeswehr hat ihr Interesse geäußert, hier weiterhin die Verantwortung zu tragen. Für „Resolute Support“ ist eine Gesamtstärke von gerade einmal 8.000 bis 10.000 Soldaten geplant. Das Gros werden wie schon bei Isaf die USA stellen.

Deutschland ist das einzige Land, das sich bislang auf einen Beitrag festgelegt hat. Er soll in den ersten beiden Jahren 600 bis 800 Soldaten umfassen. Als Voraussetzung gilt ein mit der afghanischen Regierung zu vereinbarendes Truppenstatut. Die Amerikaner haben in den Verhandlungen die Federführung übernommen. Ein Abschluß ist vor Ende November nicht zu erwarten. Insbesondere scheint es den Afghanen zu mißfallen, daß die eingesetzten Soldaten nicht afghanischem Recht unterstehen sollen.

Hier kann es jedoch nicht allein für die USA keine Kompromisse geben. Eine Einladung der afghanischen Regierung dürfte als Grundlage für ein Bundestagsmandat ausreichen. Deutschland sähe es aber gerne, wenn zusätzlich ein Beschluß des UN-Sicherheitsrates erfolgte. Dies ist auch die offizielle Position der Nato, doch wird dieses Ziel nicht verfolgt werden, wenn zu befürchten ist, daß Rußland aus einer Billigung diplomatisches Kapital schlägt.

Mit weniger als zehn Prozent der Truppenstärke von Isaf wird „Resolute Support“ kein relevanter militärischer Ordnungsfaktor im Land sein können. Alle Planungen dieser Mission fußen daher darauf, daß die optimistischen Erwartungen an die Fähigkeiten der Afghanen, im wesentlichen selbst für Stabilität zu sorgen, aufgehen. Sie könnten sich bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr des kommenden Jahres, wenn es gilt, einen Nachfolger für Karsai zu bestimmen, als trügerisch herausstellen.

 

Kundus

Anfang Oktober hat die Bundeswehr nach zehn Jahren vor Ort ihr Feldlager in Kundus an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben. Zwei Wochen später erfolgte der Abzug des 441 Mann starken deutschen Verbandes. Einige Bundeswehrsoldaten bleiben jedoch in Kundus zur Unterstützung der Afghanischen Nationalarmee, allerdings werden sie offiziell zum Standort Mazar-i-Scharif gezählt, wie ein Sprecher des Einsatzführungskommandos in Potsdam auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mitteilte. Kundus war einer der gefährlichsten Einsatzorte der Bundeswehr; hier gab es die schwersten Gefechte, hier waren die meisten deutschen Gefallenen (24 von 54) während des Isaf-Einsatzes zu beklagen.

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