© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Bürger und Krieger
Bundeswehr: Wie der Afghanistan-Einsatz das Selbstbild der Truppe verändert hat
Martin Böcker

Der Afghanistan-Einsatz hat die Bundeswehr verändert, auch wenn im Schwerpunkt nur das Heer betroffen war: Die Gefechtserfahrung, Verwundete und Gefallene haben die gesamten deutschen Streitkräfte nach 1990 an die Wirklichkeit des irregulären Krieges gewöhnt. Abgesehen von Umstrukturierungen, Transformationen und Neuausrichtungen hat sich bei den Soldaten ein neues Selbstverständnis entwickelt, das als solches allerdings noch nicht formuliert werden konnte. Stattdessen schwelt es diffus unter der Oberfläche des nach wie vor gültigen Leitbildes des Staatsbürgers in Uniform.

Selbst wenn diese Idee aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts stammt, darf sie nicht leichtfertig als überholt abgetan werden. Denn auch nach den Einsätzen auf dem Balkan, am Hindukusch, am Horn von Afrika, im Mittelmeer und in Westafrika bezeichnet diese Wendung den aus Einsicht gehorchenden Soldaten, dem dieselben staatsbürgerlichen Rechte zustehen wie jedem anderen Bürger auch – so lange jedenfalls, wie es seinen militärischen Auftrag nicht gefährdet.

Für dieses richtige Prinzip bedürfte es jedoch keiner Inneren Führung, der „Unternehmensphilosophie“ der Bundeswehr, wie es schaurig-unschön im offiziellen Behördenduktus heißt. Hinter dieser Militärphilosophie verbirgt sich mehr als Rechtssicherheit und mitdenkender Gehorsam. Zu Recht versuchten die Väter der Inneren Führung in der noch jungen Republik sowohl einen Staat im Staate als auch den politischen Mißbrauch zu verhindern. Die Lösung dazu schien die Verbürgerlichung des Soldaten zu sein: Wer die Demokratie auch innerhalb des Militärs erlebt, so das Kalkül, werde sich gegen ihre Abschaffung auflehnen.

Die Zentrale Dienstvorschrift „Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur in der Bundeswehr“ definiert den Staatsbürger in Uniform als freie Persönlichkeit und verantwortungsbewußten Staatsbürger, der sich für den Auftrag einsatzbereit hält. Doch abgesehen davon, daß schon die Wendung der „freien Persönlichkeit“ für sich allein genommen sehr voraussetzungsreich ist, transportiert der Begriff des „verantwortungsbewußten Staatsbürgers“ viele Botschaften, die weit über diese Vorschrift hinausgehen.

Zur Sui-generis-Debatte sagt er, daß der Beruf des Soldaten ein Beruf wie jeder andere ist; zur Person des Soldaten sagt er jedoch, daß von diesem viel mehr verlangt wird als von allen anderen Staatsbürgern. Denn die freie Persönlichkeit ist zwar für jeden Staatsbürger wünschenswert, aber man benötigt kein allzu pessimistisches Menschenbild, um diese Eigenschaften nicht jedem Bürger in Gänze zuzuerkennen – das trifft auf Zivilisten wie Soldaten gleichermaßen zu. Zudem hat der Staat keine rechtliche Handhabe, vom Bürger ohne Uniform „Verantwortungsbewußtsein“ einzufordern. Das kann er nur bei den Waffenträgern und jenen, die in Grundrechte eingreifen. Und unter diesen Berufsgruppen ist es nur die der Soldaten, deren Tod legal und legitim in Kauf genommen werden kann und die der Feind mit gutem Recht töten darf.

Zu diesem Widerspruch gesellt sich in der gegenwärtigen Lage der Wegfall des gemeinsamen Bedrohungsempfindens von Zivilisten und Soldaten. Während des Kalten Krieges hätte ein Angriff durch die Sowjetunion die Verteidigungsbereitschaft des gesamten Volkes und aller Staatsbürger erfordert. In weltweiten Einsätzen beschränkt sich die Beteiligung der Bürger jedoch weitgehend auf das Zahlen von Steuern und mediales Interesse. Im krassen Kontrast dazu steht eine Lebenswelt von zerfallender Staatlichkeit, Elend, permanenter Bedrohung sowie Tod und Verwundung, die sich dem Soldaten mit Beginn der einsatzvorbereitenden Ausbildung eröffnet. In dieser anderen, fremden Welt soll er nicht nur freier und verantwortungsbewußter Staatsbürger sein, sondern auch Kämpfer, Diplomat, Entwicklungshelfer, Konfliktbewältiger und vieles anderes, oft nur Floskelhaftes, mehr.

Dort draußen hat der Soldat die Sphäre des Bürgerlichen, des „Inbegriffs sekuritätsorientierter Kalkülrationalität“ (Herfried Münkler) jedoch verlassen. Spätestens dort kann er kein reiner „Staatsbürger“ mehr sein, selbst wenn er noch Träger staatsbürgerlicher Rechte ist und aus Einsicht gehorcht. In Kombination mit der Schreibstuben-Erkenntnis, er übe einen Beruf „wie jeder andere auch“ aus, verliert das Grundprinzip der Inneren Führung seine Glaubwürdigkeit und kann seine Funktion nicht mehr erfüllen.

Die Einsatzerfahrungen haben nicht nur in technischer und soldatenhandwerklicher Sicht für einen Entwicklungsschub in der Bundeswehr gesorgt. Sie gehen einher mit der praktischen Überprüfung der Inneren Führung und des Leitbildes des Staatsbürgers in Uniform. Die Widersprüche machen zumindest die Prüfung der Konzeption, vielleicht auch eine grundlegende Neugestaltung erforderlich. Hierbei ist es selbstverständlich, daß ein soldatisches Selbstbild sich nicht nur an dem orientieren darf, was derzeit diffus und nicht ausformuliert unter der Oberfläche der Inneren Führung schwelt – es soll auch ein Ideal formulieren. Ein Ideal allerdings, das sich am gegenwärtigen Kriegsbild orientiert und das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Staat und Streitkräften realistisch betrachtet. In Afghanistan haben wir gelernt, daß dieses ein anderes ist als zu der Zeit, aus der die Grundlagen der Inneren Führung stammen.

Martin Böcker, Larsen Kempf, Felix Springer (Hrsg.): Soldatentum. OlzogVerlag, München 2013, gebunden, 224 Seiten, 29,90 Euro

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