© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Auswirkungen waren nachhaltiger als gedacht
Eine Würzburger Tagung untersucht den 17. Juni in der deutschen Nachkriegsgeschichte
Jörg Bernhard Bilke

Die Feiern zum 60. Jahrestag des 17. Juni 1953 waren längst vergangen, als der von Würzburger Gymnasiallehrern 2012 gegründete Verein „Aufarbeitung der Geschichte der DDR“ zu einer Herbsttagung „Der 17. Juni 1953 als Teil der Erinnerungskultur unserer Gesellschaft“ in die Universität Würzburg einlud. Die Aufmerksamkeit für DDR-Geschichte hat sich, fast ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall 1989, von den langsam abtretenden Zeitzeugen des Aufstands auf die abwägenden und einordnenden Zeithistoriker verlagert, die dem Geschehen von 1953 leidenschaftsloser gegenüberstehen. Immerhin gibt es in der DDR-fernen Hauptstadt Unterfrankens seit dem 3. Oktober 1992 eine „Brücke der Deutschen Einheit“.

Der Aufstand der Arbeiter 1953 gegen die „Arbeiterregierung“ in Ost-Berlin (das eingeschüchterte Bürgertum hat damals nicht mitdemonstriert) liegt heute wie ein erratischer Block in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Von den SED-Politikern zum „konterrevolutionären Putsch“ erklärt, an den nicht erinnert werden durfte, wurde er im freien Teil Deutschlands 1954 zum Feiertag ernannt, dessen Sinn sich im Lauf der Jahrzehnte verlor. Sollte man einen gescheiterten Aufstand feiern? In seiner Gedenkrede am 17. Juni 1986 im Bonner Bundestag gab Bundespräsident Walter Scheel jede Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung auf: „33 Jahre sind vergangen, und wir sind von der Einheit genauso weit entfernt wie damals. (...) Die Teilung hat uns viele Schmerzen bereitet. Schmerzt sie uns noch?“

Die Resignation der politischen Klasse in Bonn, die sich in der deutschen Zweistaatlichkeit Deutschlands eingerichtet hatte, war in dieser Rede unüberhörbar. Aber die Unruhe in der DDR-Bevölkerung, 1986 vielleicht kaum erkennbar, hatte zugenommen und führte schließlich, dadurch die Ziele des 17. Juni 1953 erfüllend, zum Mauerfall und zur deutschen Einheit.

Die sieben Vorträge und die beiden Podiumsdiskussionen um den 17. Juni boten den Teilnehmern der Würzburger Tagung, die umsichtig von Studienrat Tobias Pohl geleitet wurde, eine Fülle von Einsichten, Erkenntnissen und Anregungen. Das mag daran liegen, daß inzwischen die DDR-Archive zugänglich sind und daß seit 1989 eine neue Historikergeneration herangewachsen ist, die andere Akzente setzt. Stephan Hilsberg (Berlin) beispielsweise, einer der Bürgerrechtler 1988/89, stellte die berechtigte Frage, ob der Aufstand 1953 nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Schließlich seien 500.000 Sowjetsoldatem im Land stationiert gewesen, und der Kalte Krieg zwischen den Blöcken habe jede Wiedervereinigung ausgeschlossen. Bedenkenswert war auch seine These, nicht die Normerhöhungen hätten am 16. Juni den Streik der Ost-Berliner Bauarbeiter ausgelöst, sondern deren Zurücknahme, weil das die Schwäche der DDR-Regierung gezeigt habe.

Aber trotz seines Scheiterns ist der 17. Juni 1953 im SED-Staat nicht folgenlos geblieben. So wurde, um die nichtgewählte Regierung vor dem Volk zu schützen, das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit massiv ausgebaut und hatte 1989 zuletzt 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter. Auch die 1953 gegründeten „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“, die am 13. August 1961 ihre große Bewährungsprobe hatten, dienten der inneren Sicherheit: Eine solche Situation, die zudem dem marxistischen Geschichtsverständnis widersprach, daß die Arbeiter eine Revolution machten, sollte nicht noch einmal vorkommen!

Der Streik des 17. Juni 1953 war der erste Aufstand im Ostblock, Jahre vor den Revolutionen in Ungarn 1956 und in Prag 1968. Auch die Folgen für die Bevölkerung waren von ähnlicher Wucht: Massenverhaftungen, Erschießungen, drastische Zuchthausstrafen, gewaltige Zunahme der Fluchtbewegung ins westliche Ausland. In ihrem Buch „Der 17. Juni 1953 in Sachsen“ von 1999 berichtet die Leipziger Historikerin Heidi Roth von „öffentlicher Diffamierung“ der Verurteilten, die zu „Verbrechern“ erklärt wurden. Der Dresdner Historiker Günther Heydemann sprach in Würzburg von einem „Rachefeldzug“ gegen die Aufständischen. Eckhard Jesse (Chemnitz) dagegen, der sich auf das schwierige Terrain des Diktaturvergleichs wagte, stellte die Frage, ob es richtig war, 1990 den Feiertag 17. Juni abzuschaffen und dafür das kalte Verwaltungsdatum 3. Oktober einzusetzen. Denn der Mauerfall 1989 und seine Folgen seien die Erfüllung der Forderungen von 1953 gewesen.

Unübertroffener DDR-Experte in Würzburg war der Berliner Soziologe Manfred Wilke, der einst den „Forschungsverbund SED-Staat“ an der Freien Universität gegründet hatte. Er referierte zweimal und konnte dabei aus jahrzehntelangem Umgang mit der DDR-Geschichte schöpfen. In seinem zweiten Vortrag „Der 17. Juni 1953 in der Verarbeitung der SED und des MfS“ berichtete er davon, daß die Kreml-Führung in Moskau nach dem Aufstand die Stationierungskosten ihrer Truppen in der DDR gesenkt und die Reparationen für die Kriegsschäden gesenkt habe, um den wirtschaftlichen Aufschwung zu ermöglichen. Streiks und Aufstände wären in der Geschichtsideologie nicht vorgesehen gewesen, also wurde hartnäckig danach gesucht, die Verantwortlichen dafür in der „Frontstadt West-Berlin“ ausfindig zu machen.

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