© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Immer mehr Dummdeutsche
Eine Philippika zum geistig-kulturellen Niedergang einer Bildungsnation
Thomas Foerster

Auf dem Foto, das ihre im Netz greifbare akademische Biographie schmückt, schaut Petra Weber traurig bis zart verbittert aus. Es kontrastiert eigentümlich mit ihren glänzenden Karrieredaten. Denn trotz des relativ späten Rufes, der die Mittvierzigerin erst 1999 auf einen Lehrstuhl für Musikwissenschaft und Musikpädagogik an der Universität Koblenz-Landau beförderte, fehlt im Curriculum Vitae nichts, was zum modischen „Exzellenz“-Verständnis gehört.

Weber absolvierte 1972 das Gießener altsprachliche Gymnasium, studierte Musik in München und an der Sorbonne, absolvierte eine achtjährige Klavierausbildung, promovierte 1980 über die Lieder Mussorgskijs, habilitierte sich in Würzburg mit einer Untersuchung über Beethovens Bearbeitung britischer Lieder und Vorlesungen über die lateinische Sprache im Werk des Barockkomponisten Heinrich Schütz sowie über den Taktwechsel bei Brahms. Die Zeit bis zur Berufung war für die neun Sprachen beherrschende gelehrte Frau angefüllt mit Gastprofessuren, Vertretungen, freier Mitarbeiterschaft in der Siemens-Kulturstiftung, Musikschriftstellerei und Übersetzungstätigkeit, gewiß auch mit Frustrationen, wenn sich Hoffnungen nach Nominierungen auf aussichtsreichen Listen-Plätzen nicht erfüllten.

Aber so sehen die üblichen Stationen einer universitären Ochsentour nun einmal aus. Und im Gegensatz zu vielen gescheiterten Mitstreitern darf Weber zufrieden bilanzieren: „Ende gut, alles gut.“ Warum sie trotzdem nicht in die Kamera lächelt, verrät ihr jüngst publizierter Koblenzer Vortrag über „Musik und Bildung“ (Universitas, 8/2013). Man muß sehr lange in der zeit- und kulturkritischen Chronik der Bundesrepublik zurückblättern, um eine derart schonungslose Abrechnung mit der geistig-kulturellen Lage der Nation zu finden. Ihre zentrale These lautet: „Deutschland ist ein Land, das mittlerweile in der mindestens dritten Generation der politisch gewollten Unbildung lebt.“

Mit Belegen für diese brutale These geizt Weber nicht. Offenkundig sei die „Infantilisierung der deutschen Gesellschaft“, ihre „geistige Lähmung“, die politisch induzierte „generelle Anleitung zur Arbeitsscheu“, die „Lächerlichkeit und Peinlichkeit des heutigen Abiturs“, das möglichst allen zuteil werden soll, eines auf „Berufslaufbahnen“ orientierten Studiums, das „funktionierende Rädchen im Getriebe“ trimmt. Die akademische Freiheit sei nur noch ein Begriff, der als Popanz durch die Gänge einer Institution irre, die zwar Universität heißt, „aber keine mehr ist“.

Auslöser für diese Philippika waren offenkundig deprimierende Erfahrungen mit den Auswirkungen der „Bologna-Reform“. Musikpädagogische Studiengänge würden von „sogenannten ‘Standards’ gegängelt“, so daß musikalische Erziehung an ihrer Hochschule nicht mehr möglich sei. Und das Faß zum Überlaufen brachte schließlich, daß ein von Weber seit 2006 vorbereiteter Masterstudiengang für historische Musikwissenschaft von der Universitätsleitung kurzerhand „zu Fall gebracht“ worden sei.

Für Weber kommen diese individuellen Niederlagen nicht überraschend. Sie ergeben sich vielmehr zwangsläufig, weil ihr Verständnis von Bildung sie provoziert. Entgegen dröhnend proklamierter Leitbilder wie dem „mündigen Bürger“, dem „emanzipierten Individuum“, dem „autonomen Subjekt“, sei das kapitalistische, demokratisch organisierte System an anderen als quantifizierbaren Lebensinhalten und ökonomischen Erfolgen nicht interessiert. Die Demokratie „spült“ daher den „Durchschnitt an die Oberfläche“, dem viel daran liege, Bildung, den einzigen Rohstoff unserer Gesellschaft, „aktiv verrotten zu lassen“. Jede Demokratie habe in Wirklichkeit „Angst vor dem mündigen Bürger“, da sie das Resultat von wahrer Bildung, die „geistige Selbstbestimmung als geradezu revolutionäres Potential“ fürchten müsse.

Der Musikunterricht, das von Leistungswillen, Übung, Wiederholung, Anstrengung geprägte Erlernen eines Instruments, das Auswendiglernen von Liedern, ist für Weber ein didaktisches Muster für ideale Lernprozesse, die aus Knechten Herren machen, indem sie Schüler befähigen, aus einer Flut von Informationen wichtige und unwichtige Inhalte zu selektieren, um sich in der Welt zu orientieren: „Gebildet ist, wer Macht über seine Inhalte besitzt, wer seine eigenen Inhalte meistert.“

Man bildet sich nicht durch das Hinnehmen, sondern allein durch das Verarbeiten von Inhalten. Bilden meine zeitraubende, konzentrationsfördernde Aktivität, meine „Formen“ im Sinne von „Kneten, Modellieren, Wachsen und Beschneiden, Kultivieren“. Menschen, die diese Mühe nicht aufbringen wollen, bleiben „dumm, vorlaut, selbstgerecht“, und Weber fürchtet, mit diesen Attributen „den Durchschnittsdeutschen des Jahres 2013“ beschrieben zu haben. Freilich treffe ihn keine Schuld, schließlich sei er dazu erzogen worden von einer mediokren Führungskaste, „die nicht am Nachdenken interessiert“ sei.

Webers fundamentale Attacke klingt pauschalierend und erinnert an vertraute Topoi kulturpessimistischer Rhetorik. Denkbar unpräzise ist schon die Datierung des Beginns der Verfallszeit: „mindestens drei Generationen“, gerechnet zu 30 Jahren? Dann geht es seit Weimar bergab. Oder zu 25 Jahren, also seit 1945? Welchen Einfluß hat der Umbau der Nation zur Einwanderungsgesellschaft auf die Absenkung des Bildungsniveaus? Webers zorniger Essay läßt viele Fragen offen.

Davon abgesehen bezeugt ihre eigene Biographie jedenfalls am besten die tiefste Zäsur in der deutschen Bildungsgeschichte. Wer nämlich wie Weber bis spätestens 1980 sein Abitur an leidlich intakten Gymnasien gemacht und sein Studium im „Abendsonnenschein der mittlerweile zerstörten deutschen Universität“ (Günter Maschke) wenigstens begonnen hat, wurzelt noch im humanistischen Kanon, im Menschen- und Weltbild des 19. Jahrhunderts, hat das heute hoffnungslos antiquierte aufklärerische Ideal des „Selbstdenkers“ verinnerlicht.

Die Professorin Weber erhielt in der überschaubaren hochschulpolitischen Arena von Koblenz-Landau exakt diese Lektion, daß ihr persönlicher, der Kanon der ersten Nachkriegs- und der letzten „Humboldt-Generation“ schlichtweg nicht länger mehrheitsfähig ist. Der Durchschnittsdeutsche entsorgt heute schweres Bildungsgepäck als Ballast und fühlt sich wohl dabei. Weil Frau Weber dies inzwischen begriffen hat, ist ihr das Lächeln vergangen.

www.heidelberger-lese-zeiten-verlag.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen