© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Schrittweise auf Entkrampfung hinwirken
Vertriebenenpolitik: Plädoyer für eine nicht ideologisch orientierte Versöhnung / Kaleidoskop der Veränderungen
Martin Schmidt

Manche führende Vertreter von Vertriebenen-Landsmannschaften sprechen gern von „Versöhnungskitsch“, wenn sie die offizielle Vertriebenenpolitik anprangern. Dabei zielen sie auf eine Schönredner-Rhetorik, die fortbestehende juristische und politisch-moralische Probleme im Verhältnis mit den ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten ausblendet und stattdessen auf gutnachbarschaftliche Beziehungen durch ständige deutsche Finanztransfers ohne Gegenleistungen setzt. Damit einher gehen Klagen über die öffentlichen Erinnerungslücken hinsichtlich der Leiden der deutschen Vertriebenen und die Kollektivschuldwürfe gegen dieselben als faktische Sündenböcke von NS-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg.

An all dem ist viel Wahres – und dennoch wird es der gegenwärtigen Ausgangslage deutscher Vertriebenenpolitik nicht gerecht. Der großen Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung sind die alten Reichsteile östlich von Oder und Neiße längst gleichgültig geworden, zumal der Bund der Vertriebenen (BdV) und die verschiedenen Landsmannschaften in der politischen Auseinandersetzung keine ernstzunehmende Rolle mehr spielen, nicht einmal mehr vor Wahlen.

Die gegenwarts- und zukunftsbezogene Beschäftigung mit den Oder-Neiße-Gebieten und den anderen Herkunftsregionen deutscher Flüchtlinge aus Ostmittel- und Südosteuropa hört deshalb nicht auf. Kleine, verbandspolitisch nicht selten unabhängige Zirkel sind auf den Plan getreten, um vor Ort das kulturgeschichtliche deutsche Erbe sichtbar und bewußt zu machen. Ihre Aktivitäten fallen zunehmend auf fruchtbaren Boden, da sich immer mehr akademisch gebildete jüngere Polen und Tschechen, Esten, Letten, Litauer, Slowaken, Ungarn, Rumänen, Kroaten und Serben der ganzen – also auch der deutschen – Vergangenheit ihrer heutigen Wohngebiete anzunehmen beginnen.

Die praktische Versöhnung und grenzübergreifende Bewußtmachung deutscher Spuren in den Vertreibungsgebieten findet beispielsweise in Schlesien längst durch andere Akteure als die Landsmannschaftsführung statt: durch die in der Grenzstadt Görlitz ansässigen Medien des Verlegers Alfred Theisen (Schlesien heute, Oberschlesien), private Initiativen wie den Verein zur Pflege schlesischer Kunst und Kultur (VSK), Adelsfamilien wie die von Küsters in Lomnitz (poln. Lomnica) oder einzelne landsmannschaftliche Heimatortsgemeinschaften wie die Militsch-Trachenberger oder auch das Haus Schlesien in Königswinter sowie das Schlesische Landesmuseum in Görlitz.

Diese deutsch-polnischen Netze der Vergangenheitsaufarbeitung bereiten einer unideologischen, an der historischen Wirklichkeit orientierten Sicht der Regionalgeschichte Schlesiens und einer nicht nur oberflächlichen verbalen Versöhnung den Boden.

Es ist sinnvoll nicht nur für die Sichtbarmachung schlesischen, (hinter-)pommerschen, (ost-)brandenburgischen, west- und ostpreußischen Kulturerbes und die Unterstützung heimatverbliebener Landsleute, mit diesen deutschfreundlichen Kreisen in ständigem Gespräch zu sein, schrittweise auf eine völlige Entkrampfung der Geschichtsdarstellungen hinzuwirken und deren sich aus Vertriebenensicht oft erstaunlich positiv verändernde Einstellungen einer breiteren bundesdeutschen Öffentlichkeit bekannt zu machen und damit auch das historische Ostdeutschland hierzulande überhaupt wieder ins Blickfeld zu rücken. Denn die größten Blockaden auf dem Weg zu normalen Verhältnissen sind auch bei diesem Thema zunehmend in der Bundesrepublik Deutschland selbst zu finden. Maximalforderungen und einseitige Anklagen gegen die östlichen Nachbarn haben vor diesem Hintergrund eine Alibifunktion. Sie lenken davon ab, in welch hohem Maße vorhandene Möglichkeiten ungenutzt bleiben.

So ist es keineswegs ganz untypisch, daß es im niederschlesischen Bunzlau (Boleslawiec) am 30. September 2012 ein Fest zur Einweihung eines Denkmals für den dort 1597 geborenen Barockdichter Martin Opitz gab, zu dem die polnischen Initiatoren bewußt Vertreter der vertriebenen, früher rein deutschen Bevölkerung der Stadt geladen hatten.

Solcherart Begegnungen finden naturgemäß vor allem in der alten Heimat statt, sollten aber beispielsweise auch auf einem Deutschlandtreffen der Landsmannschaft Schlesien selbstverständlich sein. Die Sudetendeutschen haben das auf ihrem jüngsten Pfingsttreffen vorgemacht: Verstärkt traten dort jüngere Tschechen auf, und auch in den Reihen der Vertriebenen selbst gab es dort Signale, daß aus den mittleren und jüngeren Generationen etwas nachkommt.

Noch immer tragen die reichen kulturgeschichtlichen Gemeinsamkeiten der Völker in Mitteleuropa ihre Früchte, und die heute erfreulich hohen Sympathiewerte für Deutschland und die Deutschen im ostmitteleuropäischen Raum geben Anlaß zur Zuversicht – auch in der Vertriebenenpolitik.

Wie sehr sich die Wahrnehmung der kulturpolitischen Vergangenheit der Herkunftsgebiete der deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge im Osten bei einem wachsenden Teil der heutigen Bewohner verändert hat, mögen folgende Beispiele andeuten:

l Im oberschlesischen Oppelner Land gibt es mittlerweile eine Vielzahl zweisprachiger polnisch-deutscher Ortsschilder und immerhin Ansätze für den überfälligen zweisprachigen Schulunterricht, wobei die von der privaten Stiftung „Pro Liberis Silesiae“ getragenen Grundschulen in Raschau/Raszowa und Goslawitz/Goslawice (diese in der Gemeinde Guttentag gelegene Einrichtung wurde erst am 1. September 2013 feierlich eröffnet) samt angeschlossenen Kindergärten als Leuchtturmprojekte gelten können.

l Das herzogliche Schloß im lettischen Mitau wird in diesem Herbst Schauplatz der feierlichen Überführung des restaurierten Sarkophags der kurländischen Herzogin Anna. Die Finanzierung dieses von der lettischen Öffentlichkeit stark beachteten Ereignisses tragen die deutschbaltischen Vereinigten Kurländischen Stiftungen.

l Das hinterpommersche Seebad Kolberg erlebte im Sommer 2010 ein Heimattreffen der vertriebenen Deutschen, das auf Einladung der polnischen Kommunalverwaltung stattfand. Dabei diskutierten die Schriftstellerin Helga Hirsch und der sudetendeutsche CSU-Politiker Bernd Posselt mit polnischen Journalisten und Politikern über „Heimat in Europa“. Bei dem insbesondere aus Nachkommen polnischer Zwangsumsiedler aus Litauen und der Ukraine bestehenden Publikum löste die Begrüßung Posselts als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft erkennbar positive Reaktionen aus.

l Angeregt vom Film „Töten auf tschechisch“ des Filmemachers David Vondráček lud der tschechische Lehrer Jiří Blažek im Jahr 2011 in seinem privaten Umfeld, in der Schule, über Facebook und nicht zuletzt beim Sudetendeutschen Tag zu einer einwöchigen Fahrradwanderung ein, bei der Orte tschechischer Gewalttaten an Sudetendeutschen nach Kriegsende aufgesucht wurden (von Aussig ging es über Theresienstadt, Postelberg, Saaz, Asch und Eger nach Marienbad).

l Im nordböhmischen Aussig entsteht derzeit ein „Museum für die Kultur und Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung in den böhmischen Ländern“. Und zum ersten Mal in der Geschichte des erst 2004 gegründeten „Prager Literaturhauses deutschsprachiger Autoren“ fand im Juni 2011 ein Rezitationswettbewerb auf deutsch statt, bei dem Schüler der Deutschen Schule Prag (offizielle bundesdeutsche Auslandsschule für Kinder von Diplomaten, Geschäftsleuten u. a.) gegen solche des Thomas-Mann-Gymnasiums (Schule der deutschen Minderheit) antraten.

l Im mährischen Wischau soll bis Ende 2013 eine von der heutigen tschechischen Stadtverwaltung und der „Gemeinschaft Wischauer Sprachinsel“ gemeinsam erarbeitete zweisprachige Ausstellung zum Thema „Kultur und Leben in der ehemaligen deutschen Sprachinsel bei Wischau“ eröffnet werden.

l Gemäß ungarischem Zensus von 2011 verdoppelte sich die Zahl der bekennenden Angehörigen der deutschen Minderheit im Vergleich zu 2001 auf 160.000 Personen. Im Dezember 2012 beschloß die Nationalversammlung in Budapest ohne Gegenstimme, alljährlich den 19. Januar als Nationalen Gedenktag für die Vertreibung der Donauschwaben zu begehen.

l Kroatiens Staatspräsident Ivo Josipovic besuchte vor wenigen Monaten anläßlich ihres 20jährigen Bestehens die „Deutsche Gemeinschaft – Landsmannschaft der Donauschwaben in Kroatien“ in Esseg (Osijek). Zuvor hatte er erklärt: „Wenn es um die Geschichte in Verbindung mit dem Zweiten Weltkrieg geht, bedauern wir jedes unschuldige Opfer und jede Ungerechtigkeit, die Angehörige der deutschen und österreichischen Minderheit in Kroatien ertragen haben. Diese Ungerechtigkeiten müssen, soweit es nach einer so langen Zeit geht, korrigiert werden.“ Die Internetseite der privaten Donauschwäbischen Kulturstiftung mit Sitz in München berichtet seit Jahren aktuell und umfassend über solche und andere kulturpolitische Ereignisse, die die Heimatgebiete der Donauschwaben betreffen (www.kulturstiftung.donauschwaben.net).

l Die slowakische Regierung genehmigte Mitte 2012 den Aufbau der neuen privaten deutschsprachigen Goethe-Hochschule Preßburg/Bratislava. Diese wäre die zweite nach 1945 gegründete deutschsprachige Hochschule außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraums nach der Andrássy-Universität in Budapest, die bereits im Herbst 2002 den Lehrbetrieb aufnahm.

l Das Studienjahr 2013/14 sieht für das Pädagogische Lyzeum im rumänischen Hermannstadt wieder eine eigene Klasse für künftige Pädagogen in deutscher Sprache vor. Damit soll der enorme Bedarf an Fachkräften für den Deutschunterricht gedeckt werden, der an den deutschen Schulen in Siebenbürgen, im Banat und anderswo inzwischen vornehmlich von rumänischen Kindern besucht wird.

l Der in Bessarabien geborene, 1940 zwangsumgesiedelte Pietist Edwin Kelm wurde 2012 bei einer Erinnerungsfeier zur Ankunft der ersten deutschen Siedler vor 190 Jahren von der moldawischen Stadt Sarata für seine vielfältigen Aktivitäten in großen Stil geehrt (Unterstützung von Kirchenbauten, medizinische und karitative Hilfen usw.).

 

Martin Schmidt wirkt führend in verschiedenen Vereinen und Stiftungen mit, die sich dem kulturellen Erbe der Flucht- und Vertreibungsgebiete widmen und für die Solidarität mit auslandsdeutschen Landsleuten eintreten.

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