© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Die Verzauberung der Welt
Erscheinungen des Wunderbaren: Der tschechische Kinderfilm „Der blaue Tiger“ von Regisseur Petr Oukropec handelt von echter Menschlichkeit und Heimattreue / Ein unverzichtbarer Ton im Orchester der europäischen Filmkunst
Sebastian Hennig

Regisseur Petr Oukropec wurde 1975 in Prag geboren. Aufgewachsen ist er mit den tschechischen Kinderfilmen einer „sehr starken lokalen Tradition (…), die an der Kinokasse erfolgreich waren und die trotzdem etwas zu sagen hatten“. An diese Filme, die durch Erfolg und Anspruch zu Klassikern wurden, knüpft er mit seinem eigenen Werk „Der blaue Tiger“ nun bruchlos an.

Johanna (Linda Votrubová) und ihr bester Freund Mathias (Jakub Wunsch) wachsen unter nicht ganz durchschaubaren, aber gleichwohl sehr familiären Beziehungen in einem botanischen Garten auf. Der Geist des Gründers der Einrichtung ist in seinem Reich noch lebendig, obgleich offenbar nur das Nötigste für den Erhalt der Baulichkeiten seither unternommen wurde. Doch wird hier unausgesetzt gepflanzt und gehegt, wenn auch unterdessen ringsum die Farbe abblättert und die Konstruktion rostet. Ein kauziger Professor hält im Glashaus launige Botanikvorlesungen vor seinen Studentinnen. Gedreht wurden die Filmszenen im Botanischen Garten in Prag-Troja.

Für die Kinder ist diese untergehende Welt, die stets wieder neu austreibt, ein natürliches Paradies. Eine eigentliche Schule im Verhältnis zur tristen Lehranstalt, wo der Lehrer herumgeht und die Unterhaltungselektronik in einen großen Flechtkorb einsammeln muß, um überhaupt durchzudringen. Gelegentlich weichen Johanna und Mathias zum Spielen in ein aufgelassenes Stadtbad aus. In dessen verwaistem Bassin und den gußeisernen Wannen entrücken sie sich träumend auf tropische Inseln.

Als der geschmeidige Bürgermeister Nörgel (Daniel Drewes) mit seinem massigen amerikanischen Geländewagen in den Hof des Gartens einbricht, um die kommerzielle Vernutzung des Menschen-Biotops anzukündigen, wird seine Absicht der Planierung dieser fruchtbaren, zeugenden Welt schon durch die Art des Auftretens offenbar. Der Gärtner Blume (Jan Hartl) merkt an: „Der Herzog ließ die Kutsche draußen stehen, als der Großvater Maximilian noch den Garten leitete.“

Alles soll fortan nützlich und käuflich werden. Aber wem nutzt es, wenn alle nun kaufen müssen, was einmal für die Gemeinschaft gestiftet wurde? Der Handlanger des Bürgermeisters will den geheimnisvollen einheimischen blauen Tiger den Behörden ausliefern und sagt zur Tochter: „Lucie, wenn ich ihn einfange, dann kriege ich die Belohnung und dann fahren wir alle nach Afrika.“

Das geht weit hinaus über eine bloße Parabel auf das tschechische Leben hundert Jahre nach der Auflösung des böhmisch-österreichischen Königreichs. Es ist vielmehr dessen Beschreibung in poetischen Sichtbarkeiten, wie sie jeder, der durch das Land reist und den Menschen und ihren Verrichtungen begegnet, wahrnehmen kann. Es ist ein subtiler Propagandafilm für echte Menschlichkeit und Heimattreue, gegen die Banalisierung von Land und Leben.

Er spiegelt gleichzeitig etwas wider von der Ernüchterung, die viele Tschechen nach zwei Jahrzehnten Havelismus empfinden. Jahre, in denen dem bislang von den Russen besetzten und gedemütigten Land zur Abwechslung die bedingungslose Auslieferung an anglo-amerikanisches Wesen verordnet wurde. Einige Profiteure verteidigen diese Linie mit fanatischer Unabdingbarkeit, während sich bei vielen zunehmend ein kulturelles Unbehagen dagegen kundtut.

Dieses Unbehagen schleicht seit einigen Jahren wie der Schatten des blauen Tigers in Oukropecs Film über die bröckeligen Mauern des geplünderten Landes im Herzen Europas. Die eigentümliche lokale Färbung verleiht dem tschechischen Kino erst echte Weltläufigkeit und stimmt den unverzichtbaren Ton im Orchester der europäischen Filmkunst an. „Der blaue Tiger“ erhielt 2012 beim Internationalen Kinderfilmfestival Kristiansand in Norwegen den Publikumspreis. Vor allem in seinem Entstehungsland war der Film ein großer Erfolg. Er hat wie seine berühmten Vorgänger aus früheren Jahrzehnten das Zeug dazu, auch hierzulande einer zu werden.

Die Realisierung des Drehbuchs war abhängig davon, ob pünktlicher Nachwuchs bei den Raubkatzen die Einarbeitung für die Aufnahmen mit den Kindern möglich macht. Die zwei Tiger Aron und Tarzan wurden in den Film hineingeboren. Als sich die verhängnisvolle Handlung zuspitzt, wird der Tiger zunehmend sichtbar. Erst geschieht das nur als Erscheinung. Bis er sich zuletzt angeschlagen und ermattet bei den Kindern im Glashaus des Gartens niederläßt. Eine tropische Vegetation beginnt darauf zu blühen und zu fruchten. Die Stadtbewohner strömen in Scharen in den vergessenen Garten und kosten von den Früchten.

Dieser Kinderfilm verkündet nicht die immerwährende Infantilität in der Art von Pippi Langstrumpf und Peter Pan. Weit eher gibt es Berührungspunkte zu E. T. A. Hoffmanns Märchen „Das fremde Kind“. Bei Hoffmann wird der böse Hauslehrer zum luziferischen Fliegenkönig. Hier ist der Bürgermeister ganz klar der lächelnde Teufel und der Tiger personifiziert, gleich dem fremden Kind Hoffmanns, das Wunderbare. Auch diese Erzählung endet glaubhaft ernüchternd und dabei doch hoffnungsvoll.

Gut gelungen ist die Darstellung der Verzauberung der Welt durch die Vorstellungskraft mit den Mitteln filmischer Animation. So züngelt die Haartracht der mißliebigen Lehrerin wie ein Schlangennest um ein Medusenhaupt, Tätowierungen und Bauornamente werden lebendig. Die Insel an der Wand des Schwimmbads weitet sich zu einer räumlichen Wirklichkeit, in welche die Filmerzählung einmündet. Die aus dem Garten Vertriebenen landen wie Schiffbrüchige auf dem Eiland des Tigers.

www.derblauetiger.de

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