© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Wenn der Vater mit dem Sohne …
... 350 Kilometer zu Fuß geht: Auf einer Wanderung entlang des Schwäbische-Alb-Nordrand-Weges
Markus Brandstätter

Die Probleme beginnen bereits am ersten Tag, wenige Stunden nach dem Aufbruch. Der war ja noch ganz schön, da sind wir durch das im Sonnenschein herrlich daliegende Donauwörth mit seiner Altstadt marschiert, haben trotz ungenauer Karte den Friedhof und den dort beginnenden Schwäbische-Alb-Nordrand-Weg (HW1) gefunden und sind dann zwei Stunden längs der pittoresken Wörnitz gewandert. Auf einer Bank am Rande eines Weilers machen wir Mittag, und da fangen die Schwierigkeiten an.

Hinter zwei Bauernhöfen sollen wir laut Schild und Markierung an einem Waldstück nach links abbiegen, aber das Schild ist mit Klebestreifen durchkreuzt. Darunter hat jemand „Streckenführung geändert“ geschrieben, aber wohin wir uns nun wenden sollen, steht da nicht. Also gehen wir geradeaus am Waldsaum entlang, den eigentlichen Weg. Derweil zieht sich der Himmel zu, und dicke graue Wolken segeln über uns hinweg.

Stunden später stehen wir mitten in der Pampa zischen Maisfeldern und Äckern und wissen nicht mehr wohin. Das ist doch nicht die Möglichkeit! Wir wollen von Donauwörth nach Tuttlingen marschieren, 350 Kilometer an 15 Tagen, und schon am ersten Tag haben wir uns total verlaufen. Aber so schnell geben wir uns nicht geschlagen. Der Kompaß wird herausgeholt, eine zweite Karte konsultiert, und unser iPhone hat ja ein GPS, das wird uns retten. Aber nichts hilft, eine halbe Stunde später wissen wir immer noch nicht, wo wir sind. Also gehen wir über Stock und Stein mit dem Kompaß in der Hand nach Nordwesten.

Der Wind frischt jetzt auf, und die ersten Tropfen fallen. Ein Ortsschild sagt uns, daß wir Mauren erreicht haben; von hier sind es noch acht Kilometer nach Mönchsdeggingen, dem Etappenziel. Von unserem Weitwanderweg, der zu den „Top Trails of Germany“ gehört und deshalb bestens ausgeschildert sein sollte, ist weit und breit nichts zu sehen, also latschen wir die Teerstraße entlang.

Die römischen Legionäre haben mit 30 Kilogramm Gepäck 4,8 Kilometer in der Stunde zurückgelegt, mußten aber abends Zelte aufbauen, einen Graben ausheben und eine Palisade errichten. Wir tragen keine 15 Kilo, müssen abends kein Lager errichten und unser Essen nicht selber kochen, also sollten wir in der Lage sein, jetzt fünf Kilometer in der Stunde zu schaffen.

Es regnet mittlerweile in Strömen, wir holen die Ponchos raus, der Wind rauscht durch die Buchen, auf einer Eiche sitzt ein Habicht. Zwischen Biogasanlagen und EU-subventioniertem Mais nehmen wir Kurs auf das Kloster Mönchsdeggingen. Naß bis auf die Knochen erreichen wir den Ort und kommen im einzigen Gasthaus unter, wo die um den Fernseher versammelten Fußballfans uns anschauen, als kämen wir direkt vom Mars.

Am nächsten Tag geht es von Mönchsdeggingen nach Bopfingen, 28 Kilometer und knappe 600 Höhenmeter sind zu bewältigen. Wenn man den ganzen Steig am Stück macht wie wir, dann erfordert das Ausdauer und eine ordentliche Kondition. Wir – das sind mein zwölfjähriger Sohn Klaus und ich, sein fünfzigjähriger Vater – verfügen über Kondition und Erfahrung, denn wir sind in den vergangenen Jahren den Eifelsteig von Aachen nach Trier, den Saar-Hunsrück-Steig von Mettlach nach Trier und den Donausteig von Passau nach Grein gewandert. Wir können also ein Lied singen von Wanderwegen, die im Nichts enden, plötzlich heraufziehenden Gewittern und Füßen blau wie Auberginen, mit denen man eigentlich nie wieder einen Schritt gehen möchte.

Der Albsteig gehört seit kurzem zu den „Top Trails of Germany“. Das sind angeblich Deutschlands Spitzenwanderwege, aber ob sie das wirklich sind, ist schwer zu sagen, denn hinter dem Begriff stecken haufenweise Marketing, Werbung und Bewertungen nach selbsterfundenen Kriterien. Aber der Verein dahinter betreibt eine informative Netzseite, auf der die 15 Trails, die es bis heute in diese Walhalla der Wanderwege geschafft haben, gut beschrieben und dokumentiert sind.

Die „Top Trails“ und ihre Vermarktung zeigen die neue Lust am Wandern, die es seit zwanzig Jahren wieder gibt. Dreißig Jahre lang, von 1960 bis 1990, war Wandern für die junge Generation passé. Viele, die in diesen Jahren Kinder und Jugendliche waren, erinnern sich mit Schrecken an Tage mit Rucksäcken, Kniebundhosen, Knotenstöcken und 25.000er-Karten in Vaters Hand.

Und dann setzte nach und nach ein Umschwung ein. Wandern wurde wieder populär, auch bei den Jüngeren. Heute wandert die Hälfte der Bundesbürger, insgesamt 40 Millionen, wieder gerne und aktiv. Dabei geben sie jedes Jahr fast acht Milliarden Euro für Reisen, Verpflegung und Unterkünfte und knapp vier Milliarden Euro für die Ausrüstung aus. Wandern ist heute alles in einem: Breitensport, riesengroßer Markt und Tourismushoffnung Nummer eins für Städte und Gemeinden, Gastronomen und Hoteliers, die weder in den Alpen noch am Meer liegen.

Für uns beide aber ist es die Erinnerung an Sommerwochen, in denen wir Natur Elemente, Landschaft und Leute, Tiere und Pflanzen ganz anders wahrgenommen haben als sonst. Wir sind durch Stürme und Hitze gegangen, haben zigmal den Weg verloren und ihn wiedergefunden, sind dem Kompaß, der Sonne und den Sternen gefolgt, haben Burgen, Schlösser, Kirchen und Klöster sich am Horizont abzeichnen sehen und dann endlich erreicht, sind hundertmal schimpfend und zeternd vor steilen Anstiegen, Umleitungen, vandalisierten Markierungen und Schildern, vor Müllkippen im Wald, geschlossenen Wirtshäusern und Museen gestanden und sind trotzdem immer weitergegangen.

Wandern, das ist Entschleunigung und Meditation, innere Einkehr und Selbsterkenntnis; ein langer Weg, das sind Gespräche zwischen Menschen, zwischen Vater und Sohn, denn wer Stunde um Stunde bergauf und bergab geht, der hat Zeit zum Austausch von Gedanken, der sieht was und kann darüber reden. Zweimal sind wir wie mittelalterliche Pilger nach Trier gekommen: müde, staubbedeckt und voller Vorfreude auf die Stadt, die da zu unseren Füßen lag. „Das ist ja wie in anno 1404“, hat Klaus einmal gesagt und ein Computerspiel gemeint, das im Spätmittelalter handelt. „Genau“, sage ich, „nur viel realer.“ Mit 350 Kilometern zu Fuß kann kein Computerspiel mithalten.

Internetseiten der Top Trails of Germany: www.top-trails-of-germany.de

Internetseiten Albsteig: www.top-trails-of-germany.de

Foto: Burgruine Flochberg / Ostalbkreis bei Bopfingen: Der Wind rauscht durch die Buchen, auf einer Eiche sitzt ein Habicht

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