© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Weniger Netto vom Brutto
Kalte Progression: Gehaltserhöhungen sind prima? Nicht, wenn der Fiskus soviel wegnimmt, daß man am Ende weniger hat als zuvor
Paul Rosen

Sterben und Steuern zahlen muß der Mensch überall, heißt ein deutsches Sprichwort. Aber in kaum einem anderen Land ist das Steuersystem so perfide geworden wie in Deutschland. Ein kompliziertes Geäst von direkten und indirekten Steuern sowie von Sozialabgaben und Gebühren sorgt dafür, daß die Kassen des Staates immer voller und die Geldbörsen der Bürger immer dünner werden.

Bei der staatlichen Steuerorgie kommt es zu beinahe unglaublichen Effekten, so daß selbst Gering- und Mittelverdienern von zusätzlich verdientem Geld nur noch wenig bleibt. Das System nennt sich „kalte Progression“ und gehört zu den wirksamsten Waffen jedes Finanzministers beim Versuch, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Und beim Erzielen höherer Einnahmen ist Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) so erfolgreich wie kaum einer seiner Vorgänger. Längst vergessen ist das Steuermotto der untergegangenen FDP: „Einfach, niedrig und gerecht.“

Statt dessen erleben die Bürger, daß das Steuersystem komplizierter wird, die Steuersätze hoch bleiben, und von Gerechtigkeit redet schon lange niemand mehr. Nach der Steuerschätzung vom Mai soll der deutsche Staat (alle Ebenen) in diesem Jahr 615 Milliarden Euro einnehmen. Bis 2017 soll die Summe ohne Erhöhung irgendwelcher Steuersätze auf 704 Milliarden Euro steigen. „So immens steigen die Einnahmen, daß der Bund und selbst das chronisch klamme Land Berlin ab 2015 ohne neue Schulden auszukommen gedenken“, wunderte sich die Wirtschaftswoche.

Einen großen Beitrag zu der Wohlfühlsituation für Politiker, die damit immer mehr soziale Wohltaten und mehr Bildung finanzieren wollen, leisten die einfachen Arbeitnehmer, denen das Geld einfach weggesteuert wird. „Arbeitnehmern treiben diese beiden Wörter die Zornesröte ins Gesicht: kalte Progression“, schimpfte der Bayernkurier, dessen Herausgeber, die CSU, allerdings in den vergangenen vier Jahren trotz Regierungsbeteiligung in Berlin keinen Beitrag zur steuerlichen Tarifentlastung zustande brachte. Nach Regierungsangaben verlieren die Bürger durch die kalte Progression zwischen 2011 und dem Ende dieses Jahres neun Milliarden Euro. 2014 sollen weitere drei Milliarden Euro zum Finanzminister wandern. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) summiert sich der Effekt der kalten Progression zwischen 2010 und 2017 auf rund 20 Milliarden Euro.

Die kalte Progression ist eine Folge des deutschen progressiven Steuertarifs. Das heißt, daß sich der Durchschnittssteuersatz mit steigendem Einkommen erhöht. Da das sogenannte Existenzminimum steuerfrei bleiben muß, setzt in Deutschland die Einkommensteuer erst ein, wenn jemand mehr als 8.130 Euro verdient. Wenn die Einkommensteuer vom Gehalt abgezogen wird, spricht man von Lohnsteuer. Ab 8.131. Euro steigt der Grenzsteuersatz stetig – und zwar von zunächst 14 Prozent auf 42 Prozent.

Das Bundesfinanzministerium definiert die kalte Progression so: „Von kalter Progression spricht man, wenn Einkommens- und Lohnerhöhungen lediglich die Inflation ausgleichen und es trotz somit unveränderter Leistungsfähigkeit zu einem Anstieg der Durchschnittsbelastung kommt.“ Wenn also die Preise in einem Jahr um zwei Prozent steigen und der Arbeitnehmer zum Ausgleich zwei Prozent mehr Gehalt bekommt, „hat sich an seiner wirtschaftlichen Situation nichts geändert“, räumt sogar das Finanzministerium ein. Trotzdem werden ihm die Steuern erhöht.

An Beispielen wird deutlich, wie wirkungsvoll die kalte Progression für den Finanzminister ist. Ein Alleinstehender verdient 2.000 Euro brutto im Monat (Steuerklasse I). Er zahlt 215 Euro Lohnsteuer und 11,82 Solizuschlag, was eine Belastung von zusammen 226,82 Euro ergibt. Erhöht sich sein Gehalt um 100 Euro im Monat, klettert die steuerliche Gesamtbelastung auf 251,42 Euro. Das heißt, von den 100 Euro sind 24,61 Euro weg. Die Zusatzbelastung dieser 100 Euro Mehrverdienst beträgt also 24,61 Prozent, obwohl der Durchschnittssteuersatz des Arbeitnehmers nur 11,97 Prozent beträgt. Da zudem die Sozialabgaben steigen, kommt beim Arbeitnehmer netto bestenfalls noch die Hälfte an. Gehört er einer Kirche an und zahlt Kirchensteuer, ist es noch weniger.

Wer mehr verdient, ist stärker betroffen. Bei 3.000 Euro Bruttomonatsverdienst werden von einer Lohnerhöhung um 100 Euro schon 28,83 Euro weggesteuert. Bei 4.000 Euro Bruttomonatsverdienst und 100 Euro mehr steigt die Belastung auf 36,58 Euro. Der Durchschnittssteuersatz dieses Arbeitnehmers beträgt 20,45 Prozent, die Belastung des zusätzlich verdienten Geldes liegt bei 36,58 Prozent. Dabei wollte der Arbeitgeber doch nur die Inflationsbelastung seines Mitarbeiters ausgleichen. Bei 5.000 Euro Bruttomonatsverdienst führt eine Gehaltserhöhung von 100 Euro zu zusätzlichen Steuern von 41,46 Euro beziehungsweise Prozent. Zusammen mit Sozialabgaben treten in den höheren Gehaltsgruppen inzwischen Effekte auf, daß von jedem zusätzlich verdienten Euro gerade noch 30 Cent zur Verfügung stehen.

Ähnlich liegen die Verhältnisse bei Verheirateten (Steuerklasse III). Bei einem Monatsverdienst von 3.000 Euro brutto sind 230,50 Euro Lohnsteuer und 12,67 Euro Solizuschlag fällig. Die steuerliche Gesamtbelastung beträgt also 243,17 Euro. Bekommt der Verheiratete 100 Euro mehr im Monat, erhöht sich die Lohnsteuer auf 252 und der Soli auf 13,86. Diese Gesamtbelastung beträgt dann 265,86 Euro. Obwohl der Verheiratete bei 3.100 Euro brutto nur einen Durchschnittssteuersatz von 8,6 Prozent hat, werden von der Erhöhung 22,69 Euro beziehungsweise Prozent weggesteuert. Bei 4.000 Euro brutto steigt die Belastung bei einer Lohnerhöhung von 100 Euro auf 27,25 Prozent an, und bei 5.000 Euro sind es bereits 29,89 Prozent beziehungsweise Euro. Auch hier kommt es zu noch höheren Belastungen durch steigende Sozialabgaben und eventuell Kirchensteuer.

Die alte schwarz-gelbe Bundesregierung hatte zuletzt 2012 den Versuch unternommen, die kalte Progression abzumildern. Zusammen mit einer Anhebung des Grundfreibetrages sollten die Bürger um sechs Milliarden Euro entlastet werden. Doch die rot-grüne Mehrheit im Bundesrat stoppte das Vorhaben. Übrig blieb nur die verfassungsrechtlich gebotene Anhebung des Grundfreibetrages, so daß dieser zum 1. Januar 2014 auf 8.354 Euro steigen wird.

Vergeblich hatte das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in einer Anhörung des Bundestages auf stark steigende Steuereinnahmen hingewiesen und den Schluß gezogen: „Auf Einkommensteuereinnahmen, die aus der kalten Progression entstehen, sollte der Staat somit verzichten können.“ Doch die angeblich arbeitnehmerfreundliche SPD hält weiter an ihrer Ablehnung fest: „Die Regierungsvorschläge zum Abbau der kalten Progression haben daran gekrankt, daß ihre Realisierung zu einem nicht akzeptablen Anstieg der Verschuldung von Bund und Ländern geführt hätte“, zitierte die Welt am 9. April 2013 deren Finanzexperten Joachim Poß.

Die Unionsparteien halten an dem Vorhaben fest, die kalte Progression abzumildern. Dies war auch das einzige und mickrige Wahlversprechen zur Entlastung der Bürger im Bundestagswahlkampf. „Wir wollen, daß Lohnerhöhungen, die dem Ausgleich von Preissteigerungen dienen, nicht mehr automatisch von einem höheren Steuertarif aufgezehrt werden. Mit der Abmilderung dieser sogenannten ‘kalten Progression’ schaffen wir mehr Leistungsgerechtigkeit und helfen gerade Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen“, heißt es im Wahlprogramm von CDU und CSU.

„Die kalte Progression in der Einkommensteuer endlich dauerhaft abzuschaffen, würde die Steuergerechtigkeit in Deutschland massiv erhöhen“, sagt der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk. Der Wirtschaftsflügel hat in der Merkel-CDU jedoch fast keinen Einfluß mehr.

Somit ist ungewiß, ob das Wahlversprechen der Union wieder kassiert wird. Nach einem Bericht des Kölner Stadt-Anzeigers sagte Schäuble in einer Telefonkonferenz des CDU-Vorstands, die Abflachung des Steuertarifs sei nur möglich, wenn es dafür finanziellen Spielraum gebe. Vorrang habe der Schuldenabbau. Damit schwenkte Schäuble auf die SPD-Position ein. Schwer fällt das dem Finanzminister und der Union nicht.

Schon lange unabhängig von eigenen Positionen und nicht mehr irgendeinem Wertekanon verpflichtet, treiben sie wie ein Stück Holz auf hoher See den Forderungen der bisherigen Opposition entgegen.

 

Kalte Progression

Führen Einkommenssteigerungen lediglich zu einem Inflationsausgleich und werden gleichzeitig die Einkommensteuersätze nicht der Inflationsrate angepaßt, bewirkt der progressive Anstieg des Einkommensteuertarifs (siehe linke Grafik), daß das Realeinkommen und damit die Kaufkraft – trotz Einkommenssteigerung – sinkt. Dieser Effekt wird als „kalte“ Steuerprogression bezeichnet, bekannt auch als „schleichende Steuererhöhung“.

Hauptsächlich betroffen davon sind Steuerpflichtige mit geringen und mittleren Einkommen (siehe rechte Grafik), was unmittelbar auf den steilen Anstieg des Grenzsteuersatzes in den Zonen zwischen dem Eingangs- und dem Spitzensteuersatz zurückzuführen ist.

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