© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

„Snowden steht auf meinen Schultern“
Tom Drake war „Top Secret“-Mann des US-Geheimdienstes NSA. Dann erkannte er, in welchem Ausmaß seine Regierung die eigenen Bürger bespitzelt, und wandte sich – Jahre vor dem Enthüller Edward Snowden – an die Presse: Die USA entwickelten einen Überwachungsstaat, schlimmer als die Stasi.
Moritz Schwarz

Herr Drake, werden „alle Deutschen vollständig abgehört“, wie der Informatik-Sicherheitsexperte Hartmut Pohl jetzt im Deutschlandfunk gewarnt hat?

Drake: Ich kann Ihnen nicht sagen, ob bereits alle Deutschen abgehört werden, aber ich kann Ihnen sagen, daß die USA dabei sind, ein weltweites Überwachungsregime zu errichten, das über Mittel verfügt, die die ostdeutsche Stasi vor Begehrlichkeit zum Sabbern bringen würde, wenn es sie noch gäbe.

Und für das Deutschland „Aufklärungsziel Nummer eins in Europa ist“, wie der „Spiegel“ Sie in seiner aktuellen Ausgabe zitiert.

Drake: Ja, weil nach den Anschlägen vom 11. September 2001 viele Spuren nach Deutschland führten.

Das ist nachvollziehbar.

Drake: Natürlich, ändert aber nichts an dem Umstand, daß so Ihr Land besonders ins Visier des NSA-Datenkraken geraten ist. Und Sie sollten auch nicht unterschätzen, daß nationale Sicherheit für die US-Regierung eine Obsession ist, eine Art Staatsreligion.

In einem Interview mit dem „Stern“ haben Sie bereits im Sommer vorhergesagt, was nun offenbar geworden ist: daß die US-Überwachsungsbehörde NSA auch die deutsche Kanzlerin abgehört hat.

Drake: Das war nicht so schwer, verfügt die NSA doch mit „Ragtime“ über ein Programm zur Abschöpfung von Regierungskommunikation. Es ist für jeden Geheimdienst extrem verführerisch, Zugang zur direkten Kommunikation einer international so bedeutenden Figur wie der deutschen Kanzlerin zu bekommen. Das ist, wie auf eine Goldmine zu stoßen, da sagt kein echter Goldgräber nein. Im Gegenteil, da wird kräftig zugelangt.

Demnach wäre also der empörte Einwand der Kanzlerin „Abhören unter Freunden, das geht gar nicht!“ reichlich naiv?

Drake: Ich bitte Sie, für die NSA ist Kanzlerin Merkel nur eine Ausländerin, über die man mehr wissen will. Die NSA behandelt Ausländer ziemlich gleich, da spielt es keine große Rolle, ob es sich um einen Verbündeten handelt. Kanzlerin Merkel ist einfach ein weiteres Ziel, sie bedeutet schlicht: Mehr Informationen! Mehr Daten! So sehen die das. Und glauben Sie nicht, daß Frau Merkel die einzige deutsche Spitzenpolitikerin ist, die die NSA abgehört hat. Ich kann Ihnen zwar nicht sagen, wer genau, aber ich habe keinen Zweifel, daß auch etliche andere Ihrer Spitzenleute Ziel sind oder waren.

Präsident Obama reklamiert, nichts von der Überwachung gewußt zu haben. Ist das glaubhaft?

Drake: Man muß einräumen, daß tatsächlich vorkommt, daß Geheimdienste ein Eigenleben führen. Andererseits, so etwas Sensibles wie das persönliche Telefon der deutschen Kanzlerin – also ich kann mir nur schwer vorstellen, daß er nicht zumindest ahnte, was da vor sich ging. Es strapaziert einfach die Grenzen der Glaubhaftigkeit, zu behaupten, er habe nichts davon gewußt.

Der ehemalige US-Botschafter in Deutschland John Kornblum versichert nachdrücklich Obamas Unschuld.

Drake: Kann ja sein, aber für mich riecht das vielmehr nach einer Strategie, um den Präsidenten zu schützen.

Kornblum appelliert, Obama jetzt nicht zu kritisieren, sondern bei der Kontrolle der NSA künftig zu unterstützen.

Drake: Ich bitte Sie, die Obama-Regierung bekämpft rücksichtslos und unbarmherzig jeden, der wagt, die Machenschaften der NSA offenzulegen, dafür bin ich ein gutes Beispiel, ebenso wie Edward Snowden, Stephen Kim, Shamai Leibowitz, Jeffrey Sterling oder Ex-CIA-Mann John Kiriakou, der im Gefängnis sitzt, weil er Folterfälle öffentlich gemacht hat.

Vor Edward Snowden galten Sie als einer der prominentesten Enthüller – „Whistleblower“ genannt – der USA. Wie er wurden Sie zunächst von den US-Justizvollzugsbehörden verfolgt.

Drake: Verfolgt, angeklagt und vor Gericht gestellt. Das FBI ließ mein Haus von bewaffneten Beamten durchsuchen. In Wirklichkeit eine Vergeltungsmaßnahme, um mich zu kriminalisieren. Dann wurde ich, wie später Snowden, auf Grundlage eines Anti-Spionage-Gesetzes von 1917, das eigentlich für richtige Spione verabschiedet wurde, zu einer Art Staasfeind gemacht und mit 35 Jahren Haft bedroht. Ich wurde überwacht und bespitzelt, und die Regierung hat meine Freunde, Familie und mein Leben zerstört.

Dennoch wurden Sie nur zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt.

Drake: Und 240 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Aber es stimmt, vor Gericht endete meine Verfolgung aus Sicht des Staates mit einem totalen Fehlschlag. Gleichwohl hat Edward Snowden meinen Fall sehr sorgfältig studiert. Snowden steht auf meinen Schultern.

Sie haben ihn unlängst in Rußland getroffen.

Drake: Ja, wir hatten ein mehrstündiges Gespräch.

Wie sieht er seine Zukunft?

Drake: Nun, die USA haben ihn zum Staatenlosen gemacht. Er hofft natürlich auf die Öffentlichkeit im Westen. Aber es ist schon voll Ironie, daß ausgerechnet Rußland ihm derzeit Aufenthalt ermöglicht. Wohin soll er sonst gehen und wie soll er sonst Hoffnung für die Zukunft haben?

Wieso haben Sie überhaupt für die NSA gearbeitet?

Drake: Als ich anfing, ging es darum, militärische Informationen zu sammeln. Es war die Zeit des Kalten Krieges und das Ziel war die Ausspähung des Gegners und nicht der eigenen Bürger.

Wann und wie kamen Ihnen Zweifel an Ihrer Tätigkeit?

Drake: Die begannen nach den Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September 2001, als ich zu meinem äußersten Erschrecken feststellen mußte, daß die US-Regierung begann, sich von der Verfassung zu entbinden. Der 11. September offenbarte einen fundamentalen Systemfehler der US-Dienste. Denn diese hatten entscheidende Informationen, um die Attacken zu verhindern, doch sie wußten sie nicht zu nutzen. Aber die NSA begriff den 11. September gar nicht als ein Versagen, sondern als Chance: „Der 11. September ist ein Geschenk!“ hörte ich wörtlich von meiner Vorgesetzten. So wurde der 11. September zu einem sogenannten „Trigger-event“, zu einem auslösenden Moment, um einen Überwachungsstaat zu errichten, indem die Überwachung von nun an gegen das eigene Volk gerichtet wurde. Das Programm dazu war „Stellar Wind“, und der Trick dabei war, aus den USA so etwas wie einen feindlichen Staat zu machen, um die dauerhafte Überwachung zu ermöglichen. Verglichen mit den heute üblichen Maßnahmen waren diese Dinge allerdings nur Kinderkram. Ich fragte damals meine Vorgesetzten und Kollegen nach der Legalität der Bespitzelung der eigenen Bürger ohne richterliche Genehmigung. Denn es wurde nicht einmal versucht, eine solche Anordnung zu erlangen, es wurde einfach gemacht.

Inzwischen baut die NSA ein Datensammelzentrum in der Wüste von Utah, dessen Zweck nicht nur die Sammlung von US-Daten, sondern von Daten weltweit ist und über das diese Zeitung bereits 2012, also vor Edward Snowden berichtet hat.

Drake: Die Daten, die sie sammeln, werden immer mehr: Terabytes, Petabytes, Exabytes. Längst sammeln sie mehr Daten, als sie verarbeiten können. Die Überwachung besteht aus einer pauschalen Rasterfahndung im ganz großen Stil. Und es sind nicht mehr nur die Verbindungsdaten, die sie speichern, es ist auch der Inhalt. Zum Beispiel Texte von E-Mails oder die Inhalte von Telefongesprächen. Faktisch werden damit Millionen Amerikaner ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung unter Verdacht gestellt. Ihr Leben wird von dem geheimen, digitalen Datenkraken des Überwachungsstaates ohne ernsthafte Begründung leergepumpt. Es ist eine schleichende Erosion unserer Bürgerrechte, und es läuft mir kalt den Rücken herunter, wenn ich daran denke. Wir befinden uns auf dem Weg zurück: Aus dem Bürger wird wieder ein Untertan. Denn Geheimhaltung und Überwachung zusammen sind eine absolut toxische Mischung für die Demokratie, es zerfrißt die Freiheit, es löst sie auf. Das ist nicht das Land, dem ich einst gedient habe – dieses Land hatte eine Idee von der Freiheit seiner Bürger! Dann fand ich mich plötzlich beteiligt an dem Verbrechen, die Verfassung zu sabotieren, dagegen bin ich aufgestanden.

Gerechtfertigt werden die Überwachungsmaßnahmen der NSA mit dem Argument der Terrorbekämpfung. Welche Terrorgefahr geht von Kanzlerin Merkel aus?

Drake: Genau das führt zum Kern der Sache: Natürlich keine! Sie tun das, weil sie es tun können.

Zu Beginn ging es in Deutschland noch nicht um Frau Merkels Telefon, sondern darum, daß die NSA die deutschen Bürger abhört. Damals hat die Bundesregierung die Affäre rasch für „beendet“ erklärt.

Drake: Ich meine, die deutsche Regierung hat sich nicht so stark für die Rechte ihrer Bürger und die Souveränität des eigenen Landes eingesetzt, wie sie es hätte tun müssen. Statt dessen hat sie versucht, den Deckel daraufzustülpen. Nun, da es sie selbst und nicht mehr nur ihre Bürger trifft, reagiert die deutsche Regierung wütend – das wirkt auf mich zynisch.

Die Bundesregierung hatte im Sommer bei der NSA nachgefragt, ob die Vorwürfe tatsächlich begründet seien, daß die USA die Rechte deutscher Bürger verletzt hätten. Die NSA antwortete mit Nein. Daraus schloß die Bundesregierung: Alles in Ordnung.

Drake: Wie putzig. Na ja, deshalb nennt man es Geheimdienst – weil es geheim ist. Dabei ist das noch nicht mal böse gemeint, die müssen natürlich behaupten, daß alles in Ordnung sei, das ist ihr Job. Im Ernst: Das Ganze ist Teil des Theaters, die spielen uns einen schönen Kabuki-Tanz vor. Selbst wenn Sie einen Geheimdienst mit den Fingern in der Keksdose erwischen, wird er noch sagen, daß das nicht seine Finger sind, daß er damit nichts zu tun hat.

Während Deutschland über Frau Merkels Telefon diskutiert, geht die Ausspähung der Bürger weiter?

Drake: Zweifellos. Dabei sind die Deutschen nach meiner Erfahrung sehr sensibel, wenn es um ihre historische Erfahrung mit den zwei Diktaturen geht. Und nur wenn die Bürger wie in Ostdeutschland aufstehen, kann die Entwicklung hin zu einem 1984 verhindert werden, wohin wir derzeit definitiv driften!

Dafür gibt es allerdings kaum Anzeichen, den Deutschen ist ihre Überwachung mehrheitlich eher gleichgültig.

Drake: Es mag Sie überraschen, aber ich bin da optimistischer. Sehen Sie, aus der Perspektive der meisten Zeitungsleser stellt es sich so dar, daß diese erst mit den Enthüllungen Edward Snowdens realisiert haben, was für ein Überwachungs-Ungeheuer da inzwischen herangewachsen ist, und sie halten das – zu Recht – für schlechte Nachrichten. Demzufolge fühlen sie sich verängstigt und sind skeptisch für die Zukunft. Aus meiner Perspektive sieht es jedoch anders aus: Ich weiß schon seit 2001, daß wir auf dem Weg in den größten Überwachungsstaat der Geschichte sind. Jahrelang aber haben sich viel zu wenige dafür interessiert. Die Öffentlichkeit nahm von den verdienstvollen, aber viel zu wenigen kritischen Stimmen, die gewarnt haben, kaum Notiz. Dann kam Edward Snowden, und plötzlich ist die Entwicklung jedermann bekannt und überall Thema! Das ist ein großer Erfolg. Endlich spüren wir Kritiker der ersten Stunde Rückenwind! Zugegeben, die Situation ist katastrophal, aber wenigstens tut sich endlich etwas. Das läßt mich hoffen, daß wir, wenn wir jetzt nicht die Hände in den Schoß legen, das Schlimmste vielleicht doch noch verhindern können.

 

Thomas Drake, war Leitender Angestellter des US-Nachrichtendienstes „National Security Agency“ (NSA), bevor er von der US-Regierung der Spionage angeklagt wurde. Geboren 1957 in Louisiana, diente Drake als Kryptolinguist während des Kalten Krieges an Bord von RC-135-Aufklärungsflugzeugen der US-Luftwaffe. Danach war Drake unter anderem im „National Military Joint Intelligence Center“ des Pentagon sowie als Analyst für die CIA tätig, bevor er zur NSA wechselte, wo er die Geheimhaltungsstufe „Top Secret“ erhielt. Zeitweilig lehrte er zudem als Professor an der National Defense University in Washington D.C., der Universität des US-Verteidigungsministeriums. Während der Ermittlungen zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sagte Drake vor der Kommission des US-Kongresses zum Versagen der NSA aus, die nicht gewarnt hatte. Ab 2005 gab er heimlich interne Papiere an die Presse weiter, legte nach eigener Ausage aber Wert darauf, daß es sich nicht um als geheim klassifizierte Dokumente handelte, bis er schließlich aufflog. Alle wichtigen amerikanischen Medien berichteten über seinen Fall, und führende Medien wie etwa die Washington Post oder der britische Guardian gaben ihm die Möglichkeit, seine Anklagen zu publizieren.

Foto: Ex-NSA-Mann und „Whistleblower“ Tom Drake: „Plötzlich fand ich mich beteiligt an dem Verbrechen, die eigene Verfassung zu sabotieren, dagegen bin ich aufgestanden“

 

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