© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

Der Flaneur
Der Alte im Kneipendorf
Albrecht Kloetzner

Er stiert mich an. Weiße Haare, etwa 70 Jahre alt, Zigarette im Mund und eine etwa gleich alte Frau an der Seite. Beide sehr gepflegt. Sie bestellen Apfelstrudel, frisch zubereitet, in einem Weingarten in Altkötzschenbroda. Früher ein Bauerndorf bei Radebeul, mit alten Häusern, die Giebel zum Anger ausgerichtet. Es sind Dutzende solcher Häuser.

Aus dem zu DDR-Zeiten verfallenen Ort wurde in den späten neunziger Jahren ein schickes Kneipendorf. Beinahe in jedem zweiten sanierten Haus befindet sich eine Schenke. Oder kleine Läden, in denen es Holzspielzeug, Porzellan, Klamotten und frisches Gemüse gibt. Das Geschäft mit Wein, Bier und Kaffee brummt an diesem Spätherbstnachmittag. Viele Rentner sind unterwegs. Die Sonne schickt ihre nicht mehr warmen Strahlen durch das Laub der bereits gelben Kastanienblätter der Angerbäume.

Ich versuche den Blicken des Alten standzuhalten. Er stiert und stiert und stiert mich an. Halb verlegen, halb genervt hebe ich mein Weinglas, proste ihm schräg lächelnd zu. Er öffnet seinen Mund ein bißchen weiter und stiert immer noch. Seine Frau schaut in meine Richtung, bemerkt den Blickkontakt und schiebt ihren Kopf zwischen meine und seine Augen. Dann portioniert sie auf seinem Teller den Strudel, schiebt die Stückchen auf seinen Löffel. Mit leicht zitternden Händen schiebt er die Bissen in den Mund, beugt sich vor, um mich weiter anzustarren. Sie lächelt mich entschuldigend an.

Sicher hatte er einen Schlaganfall, vermute ich. Dann winkt sie nach der netten, flinken Kellnerin, zahlt zwei Kaffee und zwei Apfelstrudel. Beide stehen auf, sie stützt ihn dabei. Unerwartet forsch schreitet er aus, dreht sich im Gehen noch einmal zu mir, sagt zweimal hintereinander mit rauher, leiser Stimme. „Ein schöner Mann.“ Auch sie dreht sich zu mir und lächelt.

„Danke“, sage ich, schon wieder verlegen. Ob sie es hörten, weiß ich nicht. Es war sehr leise gesagt. Ich trinke meinen Wein aus, einen Meißner Elbling, und steige fröhlich gestimmt auf mein Rad.

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