© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

Gegen den Widerstand von rechts und links
Im Rheinland strebten Separatisten vor neunzig Jahren die Abspaltung vom Reich an
Manfred Müller

Wir wollen frei sein von jedem Plunder, wir wollen frei sein von Deutschland, wir wollen frei sein von Preußen.“ Dies bekundete der Separatistenführer Hans Adam Dorten, ein ehemaliger preußischer Staatsanwalt, Ende Juli 1923 auf einer Versammlung in Koblenz. Dorten artikulierte hier die Wunschvorstellung der rheinischen Separatisten. Diese wollten im Bunde mit den Besatzungsmächten Frankreich und Belgien eine Abtrennung des Rheinlandes von Preußen und die Bildung eines Pufferstaates erreichen, der allenfalls nur noch lose dem Reichsverband angehören sollte. Am liebsten war den meisten von ihnen aber die Angliederung an Frankreich.

Das Jahr 1923 bot hierfür günstige Rahmenbedingungen: Frankreich und Belgien besetzten das Ruhrgebiet und plünderten es gegen den verzweifelten passiven (und mancherorts auch aktiven) Widerstand der Deutschen an Rhein und Ruhr aus. Das Reich taumelte einem völligen finanziellen und wirtschaftlichen Ruin entgegen und drohte in bürgerkriegsähnlichen Wirren auseinanderzubrechen. Dennoch freundete sich die große Mehrheit der Rheinländer nicht mit den Vorstellungen der Separatisten an, die scheinbar Rettung aus der fürchterlichen Misere der deutschen Dinge verhießen.

Exemplarisch hierfür ist eine Resolution, die der Stadtrat von Neuss am 12. Dezember 1922 auf Antrag der Sozialdemokraten einstimmig verabschiedete: „Schwarze Wolken hängen über unserem Rheinland. Immer wieder auftauchenden Nachrichten zufolge soll erneut beabsichtigt sein, die Rheinlande von der deutschen Republik zu trennen. Damit würde eine uralte Volks- und Kulturgemeinschaft zerrissen, wie sie fester und älter keinen Teil Deutschlands mit dem Reich verbindet. Der Rhein, stets der deutscheste der Ströme, würde zum Symbol großen Völkerunrechts. Gegen diese Absicht erheben wir, die Stadtverordneten von Neuss, als die von der Bürgerschaft gewählten Vertreter, entrüstet Protest. Das Selbstbestimmungsrecht, das man dem kleinsten Völkchen irgendwo auf der Welt zugebilligt hat, verlangen wir auch für uns. Die Reichsregierung bitten wir, mit aller Kraft sich für ein deutsches Rheinland im unveränderten Staatsverband Preußens und des Reiches einzusetzen.“

Die Neuß-Grevenbroicher Zeitung, die sich der Zentrumspartei verpflichtet fühlte, erschien am 7. März 1923 mit der Hauptschlagzeile: „Deutschland soll leben, und wenn wir leiden müssen!“ Damit spielte die NGZ auf das berühmte Gedicht „Soldatenabschied“ des Mönchengladbacher Arbeiterdichters Heinrich Lersch aus dem Jahr 1914 (Kriegsausbruch) an: „Laß mich gehn, Mutter ...“, dessen Refrain lautete: „Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!“

Am 30. September 1923 wollten die Separatisten bei einer Großveranstaltung in Düsseldorf ihre Rheinische Republik ausrufen. Die französische und belgische Regiebahn schaffte kostenlos 14.000 Anhänger und viele unpolitische Familien mit Kindern herbei, die eigentlich nur einen schönen Ausflugstag genießen wollten. Es kam zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und dem bewaffneten „Rheinlandschutz“ (mit Kriminellen und zwielichtigen Elementen durchsetzte Separatisten-Selbstschutzeinheiten).

Als die Schießereien dazu führten, daß viele separatistische Demonstranten zu fliehen begannen, griff die französische Besatzungsmacht mit Panzern, Kavallerie und Infanterie ein, nahm einen Teil der Polizei gefangen und lieferte den entwaffneten Rest der Bestialität wütender Separatisten aus. Die Bilanz dieses Blutsonntags von Düsseldorf: 17 Tote (darunter fünf Polizisten) sowie 146 in Krankenhäusern versorgte Verwundete.

Die Rheinische Republik wurde dann im Morgengrauen des 21. Oktobers im Kaisersaal des Aachener Rathauses ausgerufen. Der als Schieber bekannte Likörfabrikant Leo Deckers besetzte, geduldet von den belgischen Besatzern, mit 250 schwerbewaffneten Separatisten Aachens Verwaltungsgebäude. Die separatistische Machtergreifung setzte sich dann in der belgischen Zone in Richtung auf Düren, Mönchengladbach und Krefeld fort. Überall nach ähnlichem Muster: Wo in blutigen Kämpfen die bestens bewaffneten Separatisten gegen die unzulänglich ausgerüstete Polizei und den preußen- und reichstreuen Selbstschutz zu verlieren drohten, halfen die Belgier in „wohlwollender Neutralität“ den Separatisten, sich in den Verwaltungsgebäuden zu behaupten. Weiter aber reichte in der Regel die Separatistenherrschaft nicht.

Die Franzosen zogen nach. In ihrer Zone war die „Neutralität“ noch „wohlwollender“. So gerieten Bonn, Koblenz, Trier unter separatistische Herrschaft. Insgesamt aber hatten die Separatisten unter ihrem „Ministerpräsidenten“ Josef Friedrich Matthes nicht genügend Bewaffnete, um in beiden Zonen auch die kleineren Orte in ihre Gewalt zu bringen. Oder sie schreckten vor einem Angriff zurück, wenn dieser ihnen zu riskant erschien. So etwa bei der Stadt Neuss, wo in wenigen Tagen ein ziviler Abwehrdienst von l.000 Mann entstand, der sich auf Gewerkschaften, Sportvereine und Bürger aller politischen Richtungen – von den Kommunisten bis zu den Völkischen – stützte und ein ausgeklügeltes Alarm- und Abwehrsystem entwickelte. An Waffen standen den Bürgern allerdings nur Eisenstangen, Knüppel, Säureflaschen und Wasser aus Feuerwehrschläuchen zur Verfügung.

Was hier und anderenorts von den verfassungstreuen Bürgern praktiziert wurde, entsprach dem Ideal der Volksgemeinschaft, das bekanntlich christlich-nationale Wurzeln hat. Wenn die Separatistenherrschaft gegen Ende 1923 zusammenbrach – bis 1924 hielt sich nur noch eine Pfälzische Republik von Frankreichs Gnaden –, so ging das nicht nur auf die kämpferisch-opferbereite Haltung der rheinischen Mehrheitsbevölkerung zurück.

Auch folgende Faktoren sind zu berücksichtigen: Zwischen Frankreich und Belgien stellten sich immer wieder Rivalitäten ein. Großbritannien duldete in seiner Zone rund um Köln keine separatistischen Umtriebe. Bei den französischen und belgischen Politikern und Behörden in den Hauptstädten und im Besatzungsgebiet rangen radikale und eher gemäßigte Kräfte miteinander. Unter den Fehleinschätzungen, denen Besatzer und Separatisten sich hingaben, war eine besonders gravierend: Geschichtlich bedingte antipreußische Ressentiments ließen sich im Krisenjahr des Deutschen Reiches nicht oder nur in sehr geringem Maße für die Bildung einer Satelliten-Republik mobilisieren.

Foto: Separatisten der „Rheinischen Republik“ mit ihrem Führer Josef Friedrich Matthes (grauer Anzug, schwarzes Barett) vor dem Schloß in Koblenz, 22. November 1923: Regime von Frankreichs Gnaden

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen