© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

Nichtschwimmer kriegen Oberwasser
Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG): Hundert Jahre nach seiner Gründung ist der gemeinnützige Verein nötiger denn je
Bernd Rademacher

Der kleine graue Kasten am Gürtel piept. Jetzt ist ein Menschenleben in Gefahr. Der wachhabende Wasserrettungsdienst der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft e.V. (DLRG) verliert keine Sekunde. Was ist es diesmal? Die Einsatztagebücher erzählen immer wieder dieselben Tragödien: „Alkoholisierter Mann treibt im Rhein“, „Schlauchboot mit Familie bei Gewitter gekentert“, „Verunglückter Arbeiter am Stauwehr“, „Radfahrer stürzt Steilufer hinab“ ...

Immer wieder Leichtsinn und Selbstüberschätzung. Die Männer und Frauen mit den signal-orangen Pullis zögern trotzdem nicht. Diesmal ist es nur eine Übung: Eine öffentliche Ruderveranstaltung muß abgesichert werden.

Nicht nur der Befreiungskrieg gegen Napoleon hat 2013 Jubiläum. In diesem Jahr feiert auch eine Institution Geburtstag, die Deutschland buchstäblich über Wasser hält: Die DLRG wird 100 Jahre alt.

Der gemeinnützige Verein ist führend im Schwimmunterricht und der Ausbildung von Rettungsschwimmern. Jährlich wachen rund 40.000 Mitglieder freiwillig fast zwei Millionen Stunden an Badeseen, Küsten und Flüssen. Das rettet pro Jahr mehreren hundert Menschen das Leben. Insgesamt engagieren sich weit über eine Million Aktive und Fördermitglieder für die Rettung vor dem Ertrinken. Das macht die DLRG zur größten ehrenamtlichen Wasser-rettungsorganisation der Welt.

Die Gliederungsstruktur ist föderal: Neben dem Bundesverband bestehen Landesverbände, die wiederum in Kreisverbände und Ortsvereine unterteilt sind. International ist die DLRG in die globale und europäische International Life Saving Federation integriert.

Bis dahin war es jedoch ein weiter Weg. Er begann mit einer Katastrophe: An einem schönen Sonntag im Hochsommer 1912 standen am frühen Abend fast hundert Menschen auf dem Landungssteg der Seebrücke in Binz, als der Anleger plötzlich zusammenbrach. 80 Personen stürzten in die Ostsee. Obwohl sich Matrosen eines auf Reede liegenden Schiffes der kaiserlichen Marine mutig in die Fluten warfen und die meisten Opfer retten konnten, ertranken 16 Menschen, darunter zwei Kinder.

Das war nicht ungewöhnlich. Jährlich ertranken durchschnittlich fünftausend Personen, denn nur maximal drei Prozent der deutschen Bevölkerung konnten schwimmen. Nun zog der Deutsche Schwimmverband endlich die Konsequenz: Einen Tag nach der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals am 18. Oktober 1913 in Leipzig gründete sich im renommierten Hotel de Prusse am Roßplatz 7 die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Organisation neu strukturiert und mit einer Denkschrift für den „Massen-Schwimmunterricht in Schulen und Vereinen“ geworben. Vorstandsmitglied Fritz Peter konzipierte die Lehrmethodik des Rettungsschwimmens, die heute noch als Standard gilt. Mit dem Europameister im Turmspringen, Georg Hax, hatte die DLRG ein populäres Zugpferd. Das Konzept war erfolgreich: Im Jahr 1926 hatte die Gesellschaft schon 40.000 Grundausbildungsscheine ausgegeben.

Im Dritten Reich wurden die Lebensretter dem Reichssportführer unterstellt und in die NS-Struktur eingegliedert. Die Aktivität lief jedoch ungebremst weiter: Bis 1945 bildete die Organisation gut eine Million Rettungsschwimmer aus. Die Zahl der Ertrunkenen war seit 1913 um ein Drittel gesunken.

Nach dem Krieg übernahm der Orthopäde Wilhelm Thomsen (Vater der Brustdruck-Wiederbelebung) den Verband und konzentrierte sich vor allem auf die Jugendarbeit. Dazu entwickelte man in der Geschäftsstelle in Essen erstmals eine professionelle und einheitliche Konzeption für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit. Thomsens Bemühungen zahlten sich aus: Bei der dramatischen Sturmflutkatastrophe von 1962 bewährten sich die DLRG-Landesverbände Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen an der deutschen Nordseeküste.

In Hamburg war Innensenator Helmut Schmidt während der Sturmflut der Krisenmanager. Als er 1974 Bundeskanzler wurde, bestätigte er offiziell die Eignung der DLRG für den Katastrophenschutz. Dadurch wurde der Verein zum Mitglied der ständigen Konferenz Rettungswesen. Auf Initiative der DLRG vereinheitlichte die Konferenz der Kultusminister im Jahr 1978 sämtliche deutschen Qualifikationen und Abzeichen in den Bereichen des Schwimmsports und des Schulschwimmens.

Während der achtziger Jahre legte die Lebensrettungsgesellschaft den Schwerpunkt mit einer riesigen Welle an Veranstaltungen auf den Breitensport. Zum 75jährigen Bestehen überschwemmte die DLRG Hallen- und Freibäder mit „Badepartys“ und „Strandfesten“. Unterstützung erhielt die Kampagne durch die traditionsreiche Kosmetikmarke Nivea. Bei seinem Festvortrag zog der Präsident des deutschen Sportbundes Hans Hansen eine beeindruckende Bilanz: Von 1950 bis 1988 hatte die DLRG in 1,2 Millionen Fällen Erste Hilfe geleistet und 52.480 Menschen gerettet.

Diese Leistungen wurden auch auf der „Rescue 90“ diskutiert, dem Weltkongreß der Wasserretter in Travemünde. Zehn Tage lang erörterten internationale Experten in 120 Symposien Detailfragen der Lebensrettung. Abschluß und Höhepunkt waren die Weltmeisterschaften im Rettungsschwimmen, bei der die deutsche Nationalmannschaft sechs Goldmedaillen abräumte.

Die DLRG erklomm den Gipfel ihrer Erfolgsgeschichte: Die Mitgliederzahl kratzte an der Grenze zur halben Million, die Ertrinkungsfälle erreichten den niedrigsten Stand der Statistik.

Dann folgte eine weitere Bewährungsprobe: Das Hochwasser im brandenburgischen Oderbruch. In spektakulären Einsätzen gelang es den Rettern, durchweichte Dämme wasserseitig mit Spezialfolien abzudichten und so Deichbrüche zu verhindern.

Im vergangenen Jahr kam die DLRG ihrem erklärten Ziel, die Ertrinkungszahlen mindestens zu halbieren, sehr nahe. 2012 rückten die Retter zu rund neuntausend Einsätzen aus, 20 Prozent mehr als im Vorjahr. 411 Menschen wurden oft in letzter Minute gerettet, 383 starben im Wasser. 2013 lag diese Zahl schon zu Beginn der Ferienzeit höher. Die meisten waren Männer im mittleren Alter. Besonders hoch ist das Risiko an Baggerseen. „Je schöner der Sommer, desto mehr Badetote“, sagt DLRG-Präsident Klaus Wilkens.

Doch diese Erfolge können nicht über ein strukturelles Grundproblem hinwegtäuschen: In Deutschland stehen wegen leerer Kassen der Kommunen fast tausend öffentliche Bäder vor der Schließung. Jede fünfte Grundschule hat keinen Zugang zu einem erreichbaren Schwimmbad. Die Ertrinkungszahlen von Kindern im Vorschulalter wurden zwar durch verstärkte Projekte und Kampagnen eingedämmt, doch viele Kinder können zum Zeitpunkt ihrer Einschulung noch nicht schwimmen. Laut Erhebungen sollen bis zu 45 Prozent der Erstkläßler in Deutschland Nichtschwimmer sein. Selbst am Ende der vierten Klasse hat knapp die Hälfte nicht einmal das Schwimmabzeichen in Bronze.

„Nach der positiven Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ist dies ein Rückschlag. Für die Deutsche-Lebensrettungs-Gesellschaft, Kindergärten und Schulen heißt das, mit der frühzeitigen Gefahrenaufklärung und der Schwimmausbildung nicht nachzulassen und sie konsequent weiterzuführen«, fordert Wilkens.

Umfragen unter Bademeistern bestätigen, daß sich immer mehr Jugendliche nur mit rudimentären Schwimmbewegungen („Hundekraulen“) über Wasser halten. Zum einen, so die Aussagen der DLRG-Schwimmeister, liege das am mangelnden Interesse der Schüler, zum anderen aber auch daran, daß im Schulschwimmunterricht nur zum Vergnügen herumgeplanscht werde.

Vor allem in wenig begüterten Familienverhältnissen wird das Schwimmen vernachlässigt – wie Bewegung ganz allgemein. Insbesondere im moslemischen Migrantenmilieu ist die Schwimmkompetenz ganz schlecht. Von türkischen Mädchen gar nicht zu reden. Wenn dann bei Sommerhitze Gewässer wie Seen und Flüsse locken, kommt es durch Untiefen und Strömungen schnell zu lebensgefährlichen Situationen.

Mit dem sinkenden Interesse von Schülern am Schwimmenlernen, nimmt auch die Bereitschaft von Jugendlichen ab, sich zum Rettungsschwimmer ausbilden zu lassen.

An die Kommunen kann die DLRG Appelle richten, ihre Bäder zu erhalten, doch diesem gesamtgesellschaftlichen Trend zur Trägheit ist nur schwer zu begegnen. Entsprechend feiern die Lebensretter am 19. Oktober zwar in Berlin und Potsdam ihr 100jähriges Bestehen. Begleitend zum Festakt plant die DLRG unter dem Motto „Sicherheit für Kinder – gegen die Schließung von Schwimmbädern“ aber auch eine Demonstration mit 200 Booten auf Wannsee und Spree in Richtung Regierungsviertel.

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