© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Die Absurdität des Realen
Der Publizist Henryk M. Broder führt mit gewohnter Polemik die Entartungen innerhalb des politischen Gebildes „Europäische Union“ vor
Thorsten Hinz

Vor sechs Jahren veröffentlichte der Historiker Walter Laqueur sein Buch über „Die letzten Tage von Europa“, den Abgesang auf einen Kontinent, der demographisch, kulturell, moralisch in der Defensive steckt. Der Publizist Henryk M. Broder hat sich den Titel „ausgeliehen“ und das angeschlagene Thema variiert. Auf dem Umschlag ist das letzte Drittel einer sinkenden Titanic zu sehen. Broder hat natürlich keine Elegie verfaßt, sondern dem Trauermarsch ein Scherzo hinterhergeschickt. Die Zielscheibe seiner Kritik ist die Europäische Union (EU), die den Begriff Europa gekapert und durch die Begriffspiraterie die Europäer als Geiseln genommen hat.

Der Stil des Buches ist so locker-humoristisch, wie man ihn von Broder erwartet. Den Euro-Club karikiert er als ein Mietshaus mit 17 Parteien. Fünf davon – Portugal, Spanien, Griechenland, Irland und Zypern – „leben von der Stütze und sind nicht in der Lage, die Umlagen für Heizung, Müllabfuhr Reparaturen, Treppenreinigung etc. zu bezahlen“. Nur vier – Deutschland, Finnland, Österreich und Luxemburg – „haben ein geregeltes Einkommen. Die übrigen kommen mit Ach und Krach über die Runden und sind froh, wenn sie am Ultimo noch ein paar Groschen in der Haushaltskasse haben. Würden sie in einem solchen Haus leben wollen?“ Die Frage ist natürlich nur rhetorisch gemeint. Denn ob wir wollen oder nicht, wir müssen! Und damit zum Schaden noch der Spott kommt, „haben (wir) es auch jeden Tag mit Politikern und Medienvertretern zu tun, die von diesem ‘Modell’ begeistert sind“ und lauthals tönen, „es müsse noch viel mehr solcher Häuser geben“.

Broders Stil reduziert die Komplexität der Situation, um das Absurde daran desto stärker hervortreten zu lassen. Handelt es sich um eine Verzerrung der Wirklichkeit? Keineswegs! Mit dem Mittel der Groteske wird die Absurdität des Realen zur Anschauung gebracht.

Man muß kein Anhänger der Bundeskanzlerin sein, um den Umstand, daß Direktoren der Brüsseler EU-Bürokratie im siebten Jahr ein höheres Salär als Merkel bekommen, für empörend zu halten. Und diese Direktoren haben erst die fünfthöchste Brüsseler Gehaltsstufe erklommen. Immer neue Ämter und Kommissariate entstehen nach dem Prinzip der Zellteilung. Nicht aus sachlicher Notwendigkeit, sondern schlicht, um Stellen für neue Bewerber zu schaffen, die anschließend ihre Existenzberechtigung durch Regelungswut zu untermauern versuchen. So dürfen laut Europäischem Gerichtshof die Tschechen ihre alte Spezialität, eine mit Schnittlauch, Meerrettich oder Paprika angereicherte Streichbutter, nicht mehr „Butter“ („Maslo“) nennen, weil diese mindestens 80 Prozent Milchfett enthalten muß, die tschechische „Maslo“ aber seit jeher nur 30 Prozent Milchfett enthält.

Auf jeder zweiten Seite führt Broder neue Beispiele des real existierenden Wahnsinns auf und knüpft daran Bemerkungen, die zum Lachen, wahlweise zum Weinen anregen. Allerdings nutzt sich dieses Verfahren ab. Irgendwann vermißt der Leser den roten Faden, den logischen Aufbau, den fortschreitenden Erkenntnisgewinn.

Der gelernte Bibliothekar und ehemalige Bürgermeister einer deutschen Kleinstadt, Martin Schulz, gebietet als Präsident des Europäischen Parlaments über ein Kabinett mit sage und schreibe 38 Mitarbeitern. Seinen legendären Zusammenstoß mit dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, der „Signor Schulz“ 2003 im Straßburger Plenum mit einem KZ-Aufseher verglich, interpretiert Broder als die Konfrontation zweier Alpha-Tiere. Das war er bestimmt, aber nicht nur. Der ölige Unsympath Berlusconi demaskierte den keifenden Unsympathen Schulz als den Wiedergänger des „häßlichen Deutschen“. Zum beflissenen Demokraten und Postnationalisten geläutert, will er seine Nachbarn erneut belehren. Was lehrt uns das politisch, historisch, psychologisch? An dieser Stelle läßt Broders Witz uns leider im Stich.

Er zitiert Kommissionspräsident Manuel Barroso, der angekündigt hat, die Europäische Kommission wolle die Vereinbarkeit der Gesetze und Verfassungsordnungen in den EU-Staaten mit den Gesetzen und „mit den Werten der Europäischen Union“ untersuchen. Das erinnert fatal an den Anspruch des verflossenen Politbüros in Moskau, das Leben der Ostblock-Untertanen bis ins Kleinste zu bestimmen. Handelt es sich, wie Broder meint, lediglich um „omnipotente Phantasien impotenter Bürokraten“? Oder sind nicht noch ganz andere Kräfte wirksam? Die Natur und die Politik dulden nämlich kein Vakuum.

Das Buch von Henryk M. Broder gibt Gelegenheit, auf unterhaltsame Art seinen Gefühlsstau über Brüssel abzulassen. Erkenntnis muß man woanders suchen.

Henryk M. Broder: Die letzten Tage Europas. Wie wir eine gute Idee versenken. Knaus Verlag, München 2013, gebunden, 223 Seiten, 19,99 Euro Zahl der Privatbrauereien von 670 auf 400 sank.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen