© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Der Kaiser war es nicht
Wer war schuld an der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“? Christopher Clarks erhellendes Werk über Akteure und Hintergründe vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs liegt nun auf deutsch vor: Eine Absage an jahrzehntealte Dogmen, die eine Alleinschuld Deutschlands festzustellen glaubten
Hans Fenske

Nach Artikel 231 des dem Deutschen Reich am 28. Juni 1919 in Versailles auferlegten Friedensvertrags hatte Deutschland mit seinen Verbündeten den Alliierten den Krieg aufgezwungen. In der Note der Siegermächte an das Deutsche Reich vom 16. Juni hieß es, dies sei das größte Verbrechen gegen die Menschheit, das eine sich zivilisiert nennende Nation je begangen habe.

Getreu der preußischen Tradition habe es seit langem die Vorherrschaft in Europa angestrebt und sich schließlich entschlossen, zur Erreichung dieses Ziels Gewalt anzuwenden. So habe es Österreich-Ungarn ermuntert, Serbien binnen 48 Stunden den Krieg zu erklären, im Bewußtsein, daß dieser Krieg nicht lokalisiert werden könne, und sich, um ihn unvermeidbar zu machen, jedem Versuch der Versöhnung entzogen. Daß Deutschland der Hauptverantwortliche für den Ersten Weltkrieg war, hielten die meisten Historiker, die sich mit dem Kriegsausbruch 1914 beschäftigten, für gegeben. Sehr einflußreich in diesem Sinne war in Deutschland Fritz Fischer mit verschiedenen Arbeiten, allen voran „Griff nach der Weltmacht“ (1961). Seine Thesen wurden Gemeingut in den Schulbüchern.

Eine ganz andere Sicht bietet der in Cambridge lehrende Historiker Christopher Clark in seinem 2012 veröffentlichten Buch „The Sleepwalkers“. Die in mehrjähriger Arbeit entstandene Studie beruht auf der Auswertung eines umfangreichen Literaturbestandes und auf Nachforschungen in den einschlägigen Beständen der Archive in Sankt Petersburg, Moskau, Wien, Paris, Kiew und Greenwich, Berlin, Belgrad, Brüssel, Den Haag und Stuttgart. Es handelt sich um ein grundgelehrtes Werk, das gleichwohl sehr gut lesbar ist. Von den Rezensenten wurde es sehr positiv aufgenommen. In der Süddeutschen Zeitung nannte Gerd Krumeich, ein ausgewiesener Kenner der Jahre 1914 bis 1918, es „das vielleicht wichtigste Buch“ zum hundertjährigen Gedenken des Kriegsausbruchs. Auch Werner Lehfeldt äußerte sich in seiner Besprechung für diese Zeitung (JF 16/13) sehr günstig und wünschte eine Übersetzung ins Deutsche. Sie liegt, besorgt von Norbert Juraschitz, nun vor.

Der Autor stellt die Balkanproblematik ganz in den Mittelpunkt, das Streben Serbiens nach Schaffung eines alle Serben einschließenden Großserbien, ein Ziel, das nur im Konflikt mit dem Osmanischen Reich und der Donaumonarchie zu erreichen war. Das Werk ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil behandelt die Innen- und Außenpolitik Serbiens im Jahrzehnt nach dem Offiziersputsch am 11. Juni 1903, dem das Königspaar zum Opfer fiel und der den schroff antiösterreichischen König Peter I. aus dem Hause Karađorđević auf den Thron brachte, sodann Österreich-Ungarn mit seinen mannigfachen Problemen und seinen außenpolitischen Zielen.

Der zweite Teil holt weit aus. Hier geht es um die Entwicklung der Bündnissysteme in Europa von 1887 bis 1907, als England und Rußland sich über strittige Fragen in Asien verständigten, und um die Balkanproblematik von 1908 bis zum Frühjahr 1914. Zudem werden die für die Außenpolitik maßgeblichen Persönlichkeiten der Großmächte vorgestellt. Der dritte Teil setzt mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch Mitglieder der serbischen Geheimorganisation Schwarze Hand am 28. Juni 1914 in Sarajewo ein. In fünf weiteren Kapiteln bespricht Clark dann die durch das Attentat ausgelöste schwere internationale Krise bis zum Kriegsausbruch Anfang August.

Für Clark waren die Protagonisten von 1914 Schlafwandler, „wachsam, aber blind, von Alpträumen geplagt, (...) unfähig, die Realitäten der Greuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten“. War das wirklich so? Hatten nicht schon die beiden Balkankriege 1912/13 viele Opfer gefordert und zahlreiche Grausamkeiten gebracht? Und waren die Staatsmänner 1914 tatsächlich blind für die Folgen ihres Handelns?

Clark zeigt, daß sie sehr zielstrebig vorgingen. Serbien wollte einen entscheidenden Schritt in Richtung Großserbien tun, Rußland als Serbiens Schutzmacht wollte seinen Einfluß auf dem Balkan weiter steigern und so den Zugriff auf Bosporus und Dardanellen vorbereiten. Das bedingte eine nachhaltige Schwächung Österreich-Ungarns und Deutschlands, die ohne großen Krieg nicht zu erreichen war.

Als Belgrad auf dem Höhepunkt der Krise geneigt war, der Donaumonarchie Konzessionen zu machen, kam aus Rußland die Mahnung, das auf keinen Fall zu tun. Raymond Poincaré, der sehr einflußreiche französische Staatspräsident, bestärkte die russischen Politiker in ihren Zielen und sagte Frankreichs bedingungslose Loyalität zu. Auch ihm ging es um eine Minderung der deutschen Stellung. Die Haltung des britischen Außenministers Edward Grey war eine stillschweigende Unterstützung der russischen Linie. Zu keinem Zeitpunkt mahnte er in Sankt Petersburg zur Zurückhaltung, obwohl er wußte, daß ein serbischer Krieg auch den europäischen Krieg auslösen würde. Er wollte eine Schwächung Deutschlands, dessen Zunahme an wirtschaftlicher Kraft ihn beunruhigte.

In Wien gab es nach dem Attentat in Sarajewo eine starke Tendenz zum sofortigen Losschlagen. Außenminister Leopold Berchtold und der ungarische Ministerpräsident István Tisza waren jedoch dagegen. Man entschied sich, Serbien ultimativ eine Reihe von Forderungen vorzulegen und bei deren Zurückweisung militärisch vorzugehen. Der Mord und seine Hintergründe sollten unter Mitwirkung österreichischer Bevollmächtigter umfassend aufgeklärt und Serbien dazu gebracht werden, mit Österreich-Ungarn wieder gutnachbarliche Beziehungen zu pflegen und damit eine Haltung einzunehmen, zu der es sich bereits nach der Balkankrise 1909 vertraglich verpflichtet hatte.

Um die Krise nicht zu verschärfen, wurde das Ultimatum erst nach dem Ende des französischen Staatsbesuchs in Sankt Petersburg übergeben. Mit einem großen Krieg rechnete man in Wien nicht. Aus Berliner Sicht hätte ein schneller Schlag der Donaumonarchie gegen Serbien die Krise bald beendet. Aus der Sorge heraus, auch der einzige noch verbliebene Verbündete könne sich vom Reich abwenden, wurde Wien die Zusicherung übermittelt, Deutschland stehe als Bundesgenosse und Freund der Donaumonarchie hinter ihr. Man rechnete nicht damit, daß Rußland die Dinge bis zum großen Zusammenprall treiben werde.

Tatkräftig war Berlin um die Lokalisierung des Konflikts bemüht. Als Serbien unter russischem Einfluß die Forderung nach Mitwirkung österreichischer Beamter an der Aufklärung des Mordes abgelehnt und ihm darauf Österreich-Ungarn am 28. Juli den Krieg erklärt hatte, bat Wilhelm II. den Zaren um Zurückhaltung und bot seine Vermittlung an. Nichts läßt nach Clarks Einschätzung darauf schließen, daß die deutsche Führung „die Krise als die willkommene Gelegenheit“ betrachtete, „einen seit langem ausgearbeiteten Plan für die Auslösung eines Präventivkriegs gegen die deutschen Nachbarstaaten in Gang zu setzen“.

Clark hält es nicht für angemessen, von Schuld zu sprechen, gehe ein solcher Ansatz doch oft mit Vorurteilen einher. Bei der Schuldfrage wäre der Beweis zu erbringen, daß jemand den Krieg wollte. Das geben nach Clarks Meinung die Quellen nicht her. Dieses Fazit erstaunt. Bei der Lektüre der Kapitel über die Julikrise gewinnt man einen anderen Eindruck. In Sankt Petersburg wurden die Weichen entschlossen auf Krieg gestellt, und weder Paris noch London rieten davon ab. Das Schlußwort gibt mithin Anlaß zu kritischen Nachfragen. Insgesamt aber ist die Studie eine eindrucksvolle und ertragreiche Forschungsleistung und ein sehr gewichtiger Beitrag zur Revision der bisher vorherrschenden Bewertung des Kriegsausbruchs 1914.

 

Prof. Dr. Hans Fenske lehrte Neuere und neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau.

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, gebunden, 896 Seiten, Abbildungen, 39,99 Euro  

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