© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Auf großer Fahrt
100 Jahre Meißner-Treffen: Über 3.000 Pfadfinder und Bündische trafen sich in Erinnerung an ein historisches Manifest der Jugendbewegung in Nordhessen
Dieter Stein

Nachts zu sechst in einer Kohte. Aus vier schwarzen Segeltuchbahnen wird das klassische Zelt der bündischen Jugend gebaut. Es ist die erste Nacht für meinen zwei älteren Kinder (elf und neun Jahre alt). Wir sind das erste Mal „auf Fahrt“. Haben uns der Meißnerfahrt des Rings junger Bünde Hessen angeschlossen. Tags zuvor haben wir in einem 25 Kilometer langen Marsch das Zeltlager erreicht. Um vier Uhr morgens beginnt es zu regnen. Um sieben Uhr der Weckruf. Antreten bei Dauerregen. Wir haben uns mit Zähneputzen begnügt. Ein Trupp von Pfadfindern aus Frankfurt steht wie aus dem Ei gepellt im Rund. Sie sind zuvor gesichtet worden, wie sie geschlossen zum Brunnen liefen, um sich vorschriftsmäßig mit freiem Oberkörper zu waschen. In einem Karree sind um ein fußballplatzgroßes Feld etwa zwei Dutzend Kohten und sechs größere Jurten aufgebaut. Hier finden Vorträge zur Geschichte der Jugendbewegung statt, werden Chorsätze für einen Singewettstreit eingeübt, die Zukunft der Bünde debattiert.

Von der Burg Hanstein wanderten in der vergangenen Woche rund 250 Angehörige verschiedener Jugendbünde über die Burg Ludwigstein zum Hohen Meißner. Die Burg Ludwigstein, die auch das Archiv der deutschen Jugendbewegung beherbergt, öffnete aus diesem Anlaß ihre Tore für einen Markt der Jugendbewegung. Der höchste Berg Nordhessens war vor hundert Jahren Zielpunkt eines Treffens von 3.000 Jugendbewegten (Seiten 4-5) gewesen. Das am 12. Oktober 1913 verlesene Meißner Manifest begründete die deutsche Jugendbewegung. Bei diesem Treffen zur Erinnerung sammelten sich in gleicher Zahl Angehörige von bündischen Gruppen und Pfadfindern an der historischen Stätte.

Neben der großen Zeltstadt des Haupttreffens hatte die kleine Meißnerfahrt den Charme, die Bedeutung des Wanderns wachzurufen. Die Teilnehmer, darunter Fahrende Gesellen, Freibünder, Wandervögel oder christliche Pfadfinder unterschiedlicher Stämme, ergaben ein buntes Bild. Die Pfadfinder mit ihren adretten Uniformen, Lederhosen, Halstüchern, Baretten neben den rein Bündischen mit Jungenschafsjacken, Knickerbockern oder Mädchen mit langen Röcken.

Bei den Feuerreden wird die Sensucht nach einfachem Leben wachgerufen. Wie wichtig auch heute Freundschaft, Kameradschaft, das Erleben ursprünglicher Natur in einer Welt der Beschleunigung sei, wo virtuelle Welten, der Blick in Bildschirme das wahre Leben verstellen.

Es ist 22 Uhr. Meine Kinder, nicht wettergerecht gekleidet, stehen zitternd vor mir. Beide halten eine Fackel. Es erklingen Wandervogellieder „Wir haben den Berg erklommen“ und „Wir wollen zu Land ausfahren“. Die Reden ziehen sich in die Länge. Böen peitschen Regen in die Gesichter. Keiner weicht. Endlich werden die Fackeln in den sieben Meter hohen Feuerstoß geschoben. Die Flammen siegen über die Nacht. Funken jagen hoch in den Himmel.

Was bleibt? Das Fahrtenerlebnis hat meine Kinder begeistert. Die Freude der anderen riß mit. Beim 25-Kilometer-Marsch wurde nicht einmal gejammert, wo sonst bei Spaziergängen schon nach zehn Minuten ein „Wann sind wir da?“ ertönen kann. Eine Fortsetzung wird ausdrücklich gewünscht ...

 

Meißnertreffen

Am Hohen Meißner, Nordhessens höchstem Berg (750 Meter), fand am 11. und 12. Oktober 1813 das historische Treffen der Jugendbewegung mit der Verkündung der Meißnerformel statt. Anläßlich des 100. Jubiläums fanden sich auch jetzt wieder über 3.000 Angehörige von Pfadfindern und bündischen Gruppen ein, um sich in einem Großlager und einer Fahrt zu begegnen.

www.meissner2013-jugendinbewegung.de

www.meissner-2013.de

Fotos: Zeltstadt: Hunderte Kohten aus schwarzem Tuch werden aufgebaut; Auf Fahrt: In Gemeinschaft vergeht die Zeit im Fluge; Burg Ludwigstein: Zentrum der deutschen Jugendbewegung; Bündisches Backen: Frieden schaffen mit frischen Waffeln; Dampfendes Zelt: Der Regen konnte die Begeisterung nicht trüben; Singewettstreit: Die „Klampfe“ als Grundausrüstung; Rast: Pause auf der Wanderung zum Hohen Meißner; Volkstanz: Jungen und Mädchen in Pfadfinderkluft; Feuerstoß: Flammen besiegen die Nacht; Zwei ältere Pfadfinder beim Sonnenbaden: Das Haupttreffen zählt über 3.000 Teilnehmer

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