© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Eine freie deutsche Jugend
100 Jahre Hoher Meißner: „Aus eigener Bestimmung“
Karlheinz Weissmann

Zwanzig Pfennig Eintrittsgeld (der Idealismus bekommt einen Stoß vor den Magen) ..., in der Halle unten ein phantastisch buntes Gewimmel ..., dann an der kleinen, engen Wendeltreppe, die nach oben führt, ein wüstes Gedränge ..., oben Wachposten, die eigentlich überhaupt keinen und uneigentlich nur einen von jedem Bund hineinlassen wollen! Nachdem man sich mit Mühe und Not durchgekämpft hat, wird man in einem polizeiwidrig vollen Saal zusammengequetscht ... Eine Zeitlang ist nur Getümmel und Gesumme! Währenddessen macht man Studien. Weiße und blaue Pludermützen, darunter teilweise rein mongolische Züge, dann wieder ausgesprochene Zwiebacksnasen, fanatisch-hagere Abstinenzler- und Rohköstlergesichter mit tief in den Höhlen liegenden Augen ..., und ich höre, wie vor mir einer erklärt: Dort sitzen die Volkserzieher, die massive Erscheinung da ist Popert, dahinten sitzen die Himbeersaftstudenten, und die Fahne mit dem Rad, das ist das Banner des Sera-Kreises! In verschiedenen Ecken feiert die Kleiderreform wilde Orgien mit Kitteln in allen Regenbogenfarben ... Und über all dem Mischmasch von Loden, Manchester, Bunttuch, Reformhemden, Umhängen und Touristenanzügen ein Meer von erwartungsvollen Augen.“

Der zeitgenössische Bericht vom Vorabend der Feier auf dem Hohen Meißner vermittelt einen anschaulichen Eindruck derer, die sich am 11. und 12. Oktober 1913 auf einem Berg in der Nähe Kassels versammeln wollten: neben Reformkorporationen wie der „Deutschen Akademischen Freischar“ und dem „Deutschen Bund abstinenter Studenten“ die Burschenschaft Vandalia Jena, der von dem Verleger Eugen Diederichs gegründete „Sera-Kreis“, die Siedlergemeinschaft des „Vortrupp“, der „Bund deutscher Wanderer“ und die „Germania. Bund abstinenter Schüler“, die „Freie Schulgemeinde Wickersdorf“, der „Bund für Freie Schulgemeinden“ und das „Landschulheim am Solling“, der „Jungwandervogel“ und der „Österreichische Wandervogel“.

Offensichtlich stellten die Gruppen der Jugendbewegung auf diesem „Ersten Freideutschen Jugendtag“ nur eine Fraktion der Teilnehmer, in der Mehrzahl handelte es sich um Organisationen der Lebensreformer. Aber alle waren sich einig, daß ihr „Naturfest“ neben dem Gedankenaustausch vor allem dazu dienen sollte, einen Gegenakzent zu den reichspatriotischen Feiern zu setzen, mit denen das offizielle und das bürgerliche Deutschland der Völkerschlacht bei Leipzig gedachten, und vielleicht eine Art Dachverband für Lebensreformer und Wandervögel zu schaffen.

Obwohl die Vorbereitung für die Veranstaltung früh begonnen hatte und man sich der Unterstützung organisationsgewohnter Männer und Frauen sicher war, hatte das Meißner-Fest etwas durchaus Improvisiertes. Das galt schon für die „Rundsprache“, die am Abend des 10. Oktober auf der Burg Hanstein stattfand, und von der der eingangs zitierte Bericht einen Eindruck vermittelt. Jede Gruppe versuchte da die Hörerschaft auf die eigene Seite zu ziehen. Ziele und Pläne gab es die Menge: Die einen plädierten für „Abstinenz“ und für die „Überwindung des Kapitalismus aus dem Geist eines erneuerten Deutschtums“, der „Bund der Volkserzieher“ warb für die „völkische Reform des Bildungswesens“, es erhoben sich Stimmen für „Rassenhygiene und Siedlungsgedanken, soziale Aufbauarbeit und Bekämpfung der Sittenlosigkeit“, der Vertreter des Österreichischen Wandervogels bekräftigte den „arischen Standpunkt“, der für ihn in der Abwehr „der Welschen“, „der Juden“ und vor allem „der Slawen“ seinen Zweck hatte. Solche Positionen bildeten aber die Ausnahme und riefen bei vielen Teilnehmern Kopfschütteln hervor. Sie durften sich immerhin durch den Pädagogen Gustav Wyneken verstanden fühlen, der ausdrücklich den Eigenwert der „Jugendkultur“ hervorhob.

Trotzdem endete der erste Tag in eher gedrückter Stimmung. Das änderte sich auch nicht am 11. Oktober. Am Morgen, als die Teilnehmer von ihren verschiedenen Lagern und Übernachtungsplätzen aufbrachen, um zum Berg zu wandern, herrschte dasselbe trübe Wetter wie am Vortag. Indes besserte sich die Laune beim Aufstieg, als die Sonne durch die Wolken brach. Oben auf der Kuppe waren schließlich zwischen zwei- und dreitausend Menschen versammelt, und das Gefühl der Gemeinschaft ebnete dem in der Nacht von einigen gefaßten Plan den Weg, hier und jetzt eine Art Willenserklärung zu beschließen. Die berühmte „Meißner-Formel“ lautete: „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen sind alkohol- und nikotinfrei.“

Die Formulierung ging auf Ferdinand Avenarius zurück, den Leiter des „Dürer-Bundes“ und väterlichen Freund der Jugendbewegung, der Inhalt allerdings wurde von Vertretern der teilnehmenden Bünde bestimmt. Das erklärt auch das etwas Unorganische des Inhalts, zusammengesetzt aus der „Abwehrformel“ (Knud Ahlborn) „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten“, einer organisatorischen Bestimmung „Zur gegenseitigen Verständigung werden freideutsche Jugendtage abgehalten“ und schließlich dem Zugeständnis an die Abstinenzler „Alle gemeinsamen Veranstaltungen sind alkohol- und nikotinfrei.“

Die Teilnehmer hat aber offenbar weder der Präzisionsmangel noch der Kompromißcharakter der „Meißner-Formel“ gestört, vielmehr wurde sie mit einem gewissen Enthusiasmus aufgenommen und fand allgemeine Zustimmung. Die Atmosphäre war jedenfalls so gelöst, daß dem Ablauf des eigentlichen Festes nichts mehr im Wege stand. Der Nachmittag verging mit Wettkämpfen im Speerwerfen und Staffellauf, mit Volkstanz und Gesang, und allgemein breitete sich eine gewisse Hochstimmung aus. Am Abend hielt der Pfarrer Gottfried Traub – Abgeordneter des linksliberalen „Fortschritts“ im Reichstag – eine Ansprache und beschwor den „Geist von 1813“. Dann stimmte die Festgemeinde das Lied „Brüder, reicht die Hand zum Bunde“ an, und es folgte die Feuerrede des Wandervogelführers Knud Ahlborn. Auch er hob noch einmal das Recht der Jugend auf Selbstbestimmung hervor. Als die Flammen allmählich erloschen, machte man sich auf den Rückweg ins Tal.

Am Sonntag, dem 12. Oktober, dem letzten Tag auf dem Meißner war der Berg wieder ganz in Nebel gehüllt. Das „letzte Wort“ hatte man Wyneken übertragen. Wieder warnte er die Jugend vor allen Versuchen der Einvernahme und erinnerte wie Traub an den Kampf gegen Napoleon, an die Blütezeit des deutschen Geistes zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er warnte ausdrücklich vor der Gefahr eines neuen Krieges und vor einem engen Nationalismus und endete mit der Trias „Freiheit, Deutschheit, Jugendlichkeit!“

Das wäre sicherlich ein eindrucksvolles Schlußwort gewesen, aber der rundliche Avenarius ließ sich nicht davon abhalten, eine weitere Rede, gemischt aus väterlichem Wohlwollen und leichtem Unernst, zu halten. Erst danach zerstreuten sich die Teilnehmer. Viele blieben allerdings bis zum späten Nachmittag zusammen, tanzten in größeren und kleineren Gruppen in dem wallenden Nebel oder lauschten im Zelt der Aufführung der „Iphigenie“. Der Freideutsche Jugendtag hat in der Öffentlichkeit einiges Aufsehen erregt und auch eine nicht geringe Zahl von Mißverständnissen erzeugt. Die in den Zusammenschluß „Freideutsche Jugend“ gesetzten Erwartungen erfüllten sich zu keinem Zeitpunkt. Schon 1914 wurde die Gruppe um Wyneken ausgeschlossen. Dann begann der Erste Weltkrieg, und nach seinem Ende war die „Freideutsche Jugend“ nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die „ewigen Problematisierer“ mit den „unendlich zerquälten Gesichtern“ (Hans-Joachim Schoeps) scheiterten an einer Zeit, die die fortwährende Diskussion nicht mehr ertrug. Die Freideutschen zerfielen in ein völkisches und in ein linksradikales Lager, der Rest sank zur Bedeutungslosigkeit herab.

Die Wandervögel waren von dieser Entwicklung bemerkenswerterweise kaum betroffen. Sie hatten immer kritische Distanz zu dem ganzen Unternehmen bewahrt. Den Älteren wurde die Mitgliedschaft bei den Freideutschen anheimgestellt, aber die Gruppen selbst blieben außen vor. Trotzdem hat dann gerade die Jugendbewegung das, wie man sagen könnte, „freideutsche Ethos“ bewahrt. In veränderter Weise gilt das selbst für die „Bündische Jugend“ der zwanziger und dreißiger Jahre. Karl Otto Paetel führte das auf die bleibende Wirkung der Meißner-Formel zurück: „Die ‘bewegte’ Jugend aller Richtungen hat sich eigentlich ... stets zum Geist dieser Formel bekannt. Kennzeichnend dabei ist, daß die letzte, unscharfe Ankündigung einer kollektiven Verantwortung damals am wenigsten zündete. Im Mittelpunkt blieb der autonome Mensch.“

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