© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/13 / 04. Oktober 2013

Erlösung aus der Verzweiflung
Ein musikalischer Riese Antaios: In der Sächsischen Schweiz fanden die 4. Internationalen Schostakowitsch-Tage statt
Andreas Zöllner

Bei schönstem Sonnenschein fanden in Gohrisch, dem ältesten Kurort der Sächsischen Schweiz, zum vierten Mal die Internationalen Schostakowitsch-Tage statt. 1960 schuf der Meister hier auf einer Bank neben dem kleinen nierenförmigen Teich im Hof des Gästehauses der Regierung der DDR in nur drei Tagen eines seiner bedeutendsten kammermusikalischen Werke, das 8. Streichquartett.

Es ist das einzige Werk, welches nicht auf dem Boden des Sowjet-Imperiums entstanden ist. Während viele seiner Freunde und Schüler emigrierten, war das für den Patrioten Schostakowitsch nie eine Option. Er brauchte die Erde der geistigen Väter, das Land Mussorgskis und der Dekabristen, unter seinen Füßen.

In die Ruhe des Kurortes im Elbsandsteingebirge nimmt er die Eindrücke von dem noch in Trümmern liegenden Dresden und die berichteten Erlebnisse der Bewohner mit. Die offizielle Widmung des Quartetts lautet „Den Opfern von Krieg und Faschismus“. Diese kryptische Formel mußte alles umschließen, was ihn bewegte.

Das Hauptthema des 8. Streichquartetts ruht auf den Noten D Es C H. Schostakowitsch hat damit ein musikalisches Epitaph, ein Erinnerungsmal auf sich selbst verfaßt. Auf seine tiefe Verbundenheit mit der deutschen Musiktradition deutet auch die Tatsache, daß die Tonwerte Es und H diese Bezeichnung nur im Deutschen tragen.

Die diesjährigen Veranstaltungen und Konzerte galten dem Verhältnis zum englischen Komponisten Benjamin Britten. Die gegenseitige Wertschätzung ist durch Begegnungen und Widmungen wichtiger Werke bekundet.

Zunächst erklingt „Cantus in Memory of Benjamin Britten“ für Streichorchester und eine Glocke des estnischen Komponisten Arvo Pärt. Streichergirlanden winden sich um Glockenschläge. Diese Musik ist gegenüber dem gestalteten Empfinden in Schostakowitschs Werken nicht viel mehr als ausgebreitetes Gefühl, beim Zuhören beeindruckend, doch bald langweilig und ohne Rückhalt verklingend. Wie ein auspoliertes Fragment eines Werkes, das nie geschaffen wurde. Eigentlich bedarf es nicht des wunderbaren Orchesters, um solche Klänge entstehen zu lassen. Sie ließen sich mit einem Keyboard genauso wirkungsvoll erzeugen.

In den folgenden Reflexionen über ein Lied von John Dowland für Viola und Streichorchester, „Lachrymae“ von Benjamin Britten, klingt es, als würde die Bratsche unter den belebenden Händen von Tatjana Masurenko ihre Stimme verstellen und sägende, schnarrende und surrende Strophen wiedergeben. Auch hier stellt sich das Gefühl eines Handwerkskatalogs ein ohne Zusammenfügung der Einzelteile, ohne Erbauung im doppelten Wortsinne.

In Benjamin Brittens Stück für Streichquartett, Klavier und Streichorchester „Young Apollo“ (1939) nach einem Gedicht von John Keats stehen die Fundamente der Brücke einer Zeitgenossenschaft zu dem großen Russen so hörbar wie sonst nie. Hier ist eine trotzige Vitalität wie in Schostakowitschs 1933 entstandenem Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester. Doch ist alles eine Spur krachiger, indezenter und erinnert dadurch letztlich eher an Chatschaturjan denn an Schostakowitsch.

Dessen 14. Sinfonie war der Höhepunkt des Festivals. Wie diese Musik die Verzweiflung zum Ausdruck kommen läßt und dadurch von ihr erlöst, steht in großartigem Gegensatz zu den vorangegangenen Werken, die glatt, hell und frei in musikalische Sackgassen führen. Schostakowitschs Vertonung von Gedichten von Lorca, Apollinaire und Rilke senkt das Dunkel über die großen Anmaßungen der Aufklärung und Erleuchtung. So tritt dieser vermutete Atheist ernsthafter und würdevoller den letzten Dingen gegenüber als die Esoteriker und Hermetiker der Moderne.

Der vorjährige Schostakowitsch-Preisträger Michail Jurowski dirigierte die Musiker der Staatskapelle, Evelina Dobraceva und Maxim Mikhailov sangen mit äußerster Konzentration und Hingabe.

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