© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/13 / 04. Oktober 2013

Außen Asche und innen die Glut
Sängertheater: In der Dresdner Semperoper feiert eine neue „Carmen“ unter der Regie des Countertenors Axel Köhler Premiere
Sebastian Hennig

In der Ruhmeshalle historischer Tonaufzeichnungen ist die Dresdner Staatskapelle mit Georges Bizets „Carmen“ eindrucksvoll vertreten durch eine Aufnahme unter Karl Böhm aus dem Jahr 1942. Elisabeth Höngen, Torsten Ralf und Josef Herrmann ließen sich damals noch auf deutsch hören.

Natürlich tanzte und sang die fatale Zigeunerin seither immer wieder über die Dresdner Bühne. Als im Hochwasserjahr 2002 das Opernhaus nicht bespielbar war, wurde die Premiere von Harry Kupfers „Carmen – Eine Version“ im Ausweichquartier der Autofabrik am Großen Garten gegeben. Die letzte Inszenierung des Stückes gab es erst 2007 in der Semperoper. „Carmen“ zieht eben immer. Aber die suggestive Kraft des Stücks verführt auch zur Nachlässigkeit bei der Darstellung. Das Regietheater hängt sich an die Selbstläufer, um mitgerissen zu werden auf der Erfolgsbahn dieser zeitlosen Schlager.

Jetzt aber gibt es eine „Carmen“ an der Semperoper, die kein Regietheater, sondern Sängertheater ist. Dem Countertenor Axel Köhler sind aus der eigenen Praxis die artifiziellen Wendungen und Wirkungen des Gesanges von Grund auf vertraut. Gegen einen Mann mit dieser Erfahrung sollten die Nur-Regisseure, ohne eigene aktive Bühnenerfahrung, gerechterweise als Seiteneinsteiger gelten statt andersherum. Da das Stück Bizets in seiner Mischung von Künstlichkeit und Leidenschaft der barocken Opera seria nicht ganz unähnlich ist, vermag der gestalterische Instinkt eines versierten Bühnensängers dem eher beizukommen als die Spitzfindigkeiten geistreicher Regisseure.

Aus dem erzählerischen Leerlauf der „Ohrwürmer und Tableaus, die bar jedes Realismus sind“, leitet Köhler die Notwendigkeit eines „körperlichen Theaters“ ab, mit der Absicht, „der Atmosphäre eine Thermik zu geben, sie zu bündeln und die Musik als solche szenisch zu verwirklichen“.

Geradezu genial wird das unterstützt durch das Bühnenbild von Arne Wal-ther, mit dem der Regisseur bereits für Jaromir Weinbergers Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ in Dresden zusammenarbeitete, die in der vorletzten Saison von Opernwelt zur „Wiederentdeckung des Jahres“ gekürt wurde. Die Konstruktion der ineinander verschobenen halbzylindrischen Bauten ist von einer unüberschaubaren Einfachheit. Es entstehen verblüffend vielfältige Raumeindrücke. Vor einem grauen Silo, der im Inneren rot erleuchtet ist, bewegen sich Wachsoldaten in stahlblauen Uniformen: außen Asche und innen die Glut.

Der Bau öffnet sich und wie aus der unterirdischen Fabrik in Fritz Langs „Metropolis“ werden die Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik aus der Tiefe hervorgehoben. Carmen (Anke Vondung) tritt hinter einem Stapel von Kartons hervor, den sie wegschlägt. Später formiert sich das Rund zur Kneipe von Lillias Pastia (Enrico Schubert), in deren Mitte auf einem riesigen runden Tisch getanzt wird, und markiert im Finale den Eintritt in die Stierkampfarena. Das Credo von Regisseur und Bühnenbildner lautet: „So konkret wie nötig und so abstrakt wie möglich (…) Es soll eine Verbindung von Sinnlichkeit und der Magie der Abstraktion entstehen.“ Das ist beispielhaft gelungen.

Doch an der Spielplangestaltung der Semperoper für 2013 merkt man diese Absicht nicht und ist verstimmt. Denn auch die „Carmen“-Premiere ordnet sich ein in eine Serie von raffinierten Impertinenzen zum Richard-Wagner-Jubiläumsjahr. So wurden zuletzt Marginalien wie „La Vestale“ von Spontini und „La Juive“ von Halévy geboten, und „Der fliegende Holländer“ durfte nur als ein feministisch-emanzipatorischer Mummenschanz passieren (JF 27/13).

Nun wird also das Publikum im Namen des Wagner abtrünnig gewordenen Friedrich Nietzsche dazu eingeladen, an Bizets Musik ein „besserer Mensch“ zu werden. Nietzsche schrieb in „Der Fall Wagner“ über „Carmen“: „Auch dieses Werk erlöst, nicht Wagner allein ist ein ‘Erlöser’.“ Der Philosoph hatte gewiß seine persönlichen Gründe für diese Feststellung. Oder hat er gar die dämliche „Holländer“-Inszenierung von Florentine Klepper irgendwie vorhersehen können? Heißt es doch bei ihm weiter: „Keine Senta-Sentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als Fatalität, zynisch, unschuldig, grausam – und eben darin Natur! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter ist!“

Axel Köhler empfindet „Carmen“ als „brisant“ und „brachial“, ganz in Nietzsches Sinne. Die Inszenierung ist meisterhaft austariert zwischen klarer Rollenzuweisung von Mann, Weib, Zigeuner, Stierkämpfer, Bandit und Soldat und allgemeingültiger zeitloser Dramatik. Nur so ergibt das Ganze einen Sinn. In nächtlichen Nebelschwaden verrichten die Guerilleros in Tarnanzügen ihr finsteres Werk. Die Stierkämpfer werden besungen: „Seht, wie prachtvoll die Stickereien ihres Kampfkostüms funkeln!“

Und dank der Kostümgestalterin Henrike Bromber ist tatsächlich zu sehen, wovon die Sänger künden. Das Stück spielt wirklich in der heutigen Zeit, mit Privatarmeen, Banditen und eben auch Stierkämpfern, welche noch immer mit ihrem Einsatz dem ewigen Schauspiel Würde verleihen, nicht anders als zu Mérimées und Bizets Zeiten.

Dem Einzug der Toreros in die Arena folgen alle nach, nur Carmen und Don José (Arnold Rutkowski) bleiben zurück, wie Beeren von der Menschentraube abgestreift. Er steht im Anzug mit Blumenstrauß wie ein Konfirmand vor der zügellosen Frau, die von der pathetischen Huldigung durch den Matador Escamillo (Kostas Smoriginas) berauscht ist. Das Ganze endet, überzeugend dargestellt und gesungen, mit dem „tragischen Witz, der das Wesen der Liebe ausmacht“ (Nietzsche), indem Don José vernichtet, was er liebt: „Ja! Ich habe sie getötet, ich – meine angebetete Carmen.“

Die nächsten „Carmen“-Vorstellungen an der Dresdner Semperoper, Theaterplatz 2, finden statt am 5., 12. und 26. Oktober, 22. und 25. November sowie an sechs Abenden im kommenden Jahr von Februar bis April.

www.semperoper.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen