© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/13 / 27. September 2013

Auf die nostalgische Tour
Retro-Trend als Rückenwind: Der „Tweed Day" erhebt die Mode der Zwanziger zum Kultstatus
Christian Rudolf

Nanu, was ist denn das hier? Haben wir 2013 oder 1931? Manch einer reibt sich verwundert die Augen, andere bleiben neugierig stehen. Mehrere Dutzend Radfahrer im traditionellen schottischen Tweed geben sich ein fröhliches Stelldichein. Am Wahlsonntag, mitten in Berlin auf dem Gendarmenmarkt. Sie tragen an sich völlig unmodische Kleidung: Sakkos oder Anzüge aus grobem Wollgarn, Schiebermütze, Knickerbocker, Kniestrümpfe im schottischen Argyle-Muster, handgemachte Schuhe und traditionelle Fahrradhandschuhe aus perforiertem Leder mit gehäkelter Oberseite. Die Farben des Herbstes dominieren: gedeckt, Erdiges. Dazu Fahrräder, auf die der Begriff Drahtesel so richtig paßt. Gemuffte Stahlrahmen, Ledersattel, ein stilisierter Adler auf dem Vorderschutzblech und klangvolle Namen wie „Vaterland“. Am Lenker baumelt die Collegetasche aus den Fünfzigern.

„Ich bin leidenschaftlich anachronistisch“

Es ist September, und es ist wieder „Tweed Day“ in Berlin. Rad- und Stilenthusiasten treffen sich zur gemütlichen Sonntagnachmittagspritztour – Jüngere, Junggebliebene, Familien. Freaks und Unikate, die der Produktmoderne aus Kunstfasern und Plastik trotzen. Ihre Motive sind verschieden, alle eint sie die Liebe zum Stilvollen, Schönen, Gediegenen.

Merlin Noack ist von Anfang an dabei, seit die Idee 2011 aus London auch in der deutschen Hauptstadt Nachahmer fand. „Ich liebe alte Fahrräder“, sagt er und bekennt ungerührt: „Ich bin leidenschaftlich anachronistisch.“ Pumphosen und Tweedkappe seien seine tägliche Kleidung. „Ich laufe immer so herum.“ Seiner Begleiterin stehen das taillierte mattweiße Sommerkleid und der Strohhut auf rosenbekränztem Haar ausgesprochen gut!

Oliver Sinz trägt ein Sakko mit Fischgrätmuster. Das eingesteckte Taschentuch unterstreicht seinen Geschmack. Das nicht von ungefähr: Sinz ist Schneider und Designer und hat sein Jackett selbst gefertigt. Er lobt das Zeitlose des Tweedstils: „Das trug man damals in ganz Europa. Die Kleidung war auch praktisch unverwüstlich.“

Ein anderer Herr im beigefarbenen Anzug wirkt wie eine Romanfigur aus „Berlin Alexanderplatz“. „Knickerbocker sind beim Radfahren ungemein praktisch“, lobt er. „Da gerät nichts in die Kette.“ Er hat über die Passion für alte Fahrräder hierher gefunden. Das Blechschild am Revers weist ihn als Mitglied eines Clubs für historische Fahrräder aus. Stolz macht er auf die Griffe des Lenkers aufmerksam: aus rötlichem Bakelit, „original, nicht nachgefertigt“.

2009 unternahmen erstmals in London leidenschaftliche Radfahrer mit einem Faible für das klassisch Schöne eine gemeinsame Ausfahrt. Inzwischen hat sich der „Tweed Run“, wie das Original heißt, um den ganzen Erdball verbreitet: Es gibt Retroparaden in Stuttgart, Rom, New York, Sankt Petersburg, Kiew, Toronto, Sydney und Tokio. Der Fahrradhändler Dirk deGünther war es, der die Idee vor zwei Jahren nach Berlin importierte. Seither organisiert er die Treffen. Dem gelernten Kfz-Mechaniker ging es dabei um nichts Politisches: „Wir wollen einfach nur zusammen radfahren und dabei einen guten Stil zeigen.“

Das scheint gelungen. Passanten bleiben stehen, sind sichtlich angetan. Als ob von der aus der Zeit gefallenen Kleidung und der Abwesenheit von Motoren eine große Ruhe ausgeht, setzt sich der Troß heiterer Menschen ganz ohne Hast in Bewegung. Bevor es losgeht, gibt es ein Gruppenfoto vor dem Schinkelschen Schauspielhaus und Posieren mit den Rädern.

Die Tour führt in aller Gemütlichkeit über die „Linden“ durchs Brandenburger Tor in den Berliner Tiergarten. Die zusammengerollten Decken auf den Gepäckträgern deuten darauf hin: Picknick im Grünen – natürlich stilecht mit „Five O’ Clock Tea“.

Radeln mit Stil: Gekonnt kombiniert  und „very british“

Verkleiden macht Spaß und sieht schön aus: Phantasie und Geschmack sind keine Grenzen gesetzt, um eine Auszeit von der Jetztzeit zu nehmen

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