Eine deutsche Eigenart
„An die ferne Geliebte": Die erste CD-Einspielung sämtlicher Lieder von Beethoven ist erschienen
Markus Brandstetter

Ludwig van Beethoven hat an die hundert Lieder für Gesang und Klavier komponiert. Aber genau wie für Haydn und Mozart stand das Klavierlied nicht im Zentrum seines Schaffens. Für Beethoven lagen die Schwerpunkte seiner Produktion auf den 32 Klaviersonaten, den neun Symphonien und den 18 Streichquartetten.

Die große Ära des Klavierliedes, die das Musikleben des 19. Jahrhunderts so sehr prägte, begann in der Generation nach Beethoven bei Franz Schubert, setzte sich über Robert Schumann und Johannes Brahms fort und gipfelte in Hugo Wolf, der fast nur Klavierlieder schrieb. Ihren spätromantischen Abschluß fand diese Ära in den Liedern von Gustav Mahler, Richard Strauss und Hans Pfitzner. Von 1800 bis 1950, hundertfünfzig Jahre also, währte die große Zeit des Klavierliedes, die es hauptsächlich in Deutschland und Österreich gab, und die man deshalb ruhig als eine nationale Eigenart der Kompositionspraxis in diesen Ländern bezeichnen darf.

Gewiß, auch skandinavische, slawische und romanische Komponisten haben Klavierlieder geschrieben. Einige wie Edvard Griegs „Herzwunden“ waren eine Zeitlang genauso berühmt wie ihre deutschen Vorbilder, aber bei den meisten dieser Komponisten fällt auf, wie sehr sie sich an Schubert, Schumann und Brahms orientierten, was gerade bei Norwegern und Dänen so weit ging, daß diese dieselben Texte, die bereits Schubert und Schumann in Musik gesetzt hatten, nochmals vertonten – und zwar auf deutsch.

Er vertonte Goethes „Kennst Du das Land?“

Von Beethovens Klavierliedern haben sich nicht einmal zehn im aktiven Repertoire der meisten Liedersänger gehalten. Das bekannteste Einzelstück ist „Adelaide“, ein melodisch schönes, durchkomponiertes Lied, das in der Wiener Erstveröffentlichung von 1802 nicht als „Lied“ bezeichnet wird, sondern als eine „Kantate für eine Singstimme mit Begleitung des Clavier“. Eine Kantate würden wir das heute nicht mehr nennen, schon eher eine zweiteilige Konzert-arie, in der auf einen langsamen, reich ornamentierten ersten Teil ein Allegro Molto im Allabreve-Takt folgt, das in eine schmissige Schlußstretta mündet, eine Praxis, die Beethoven aus der italienischen Oper des 18. Jahrhunderts gut bekannt war.

Das Gedicht zu „Adelaide“ stammt von Friedrich von Matthisson, einem heute fast vergessenen Pfarrerssohn aus Magdeburg. Darin ist viel von Goldgewölken, Flötentönen, Nachtigallen, rauschenden Wellen und säuselnden Winden die Rede, und ohne Beethoven und Schubert, der den Text ebenfalls vertont hat, wäre der Text längst in der Versenkung verschwunden. „Adelaide“ ist seit jeher ein Stück für Tenöre gewesen, die sich hier so richtig aussingen dürfen: Jussi Björling, Peter Sanders, Fritz Wunderlich und Nicolai Gedda haben es alle auf Schallplatte aufgenommen und dabei auch große Baritone wie Heinrich Schlusnus und Dietrich Fischer-Dieskau in den Schatten gestellt.

In der neuen Komplettaufnahme der Thorofon wird „Adelaide“ von Constantin Graf von Walderdorff gesungen, einem Baßbariton, der durch klare Diktion und eine feine und kultivierte Stimme gefällt, jedoch den Verzierungen und den von Beethoven verlangten Höhen nicht immer ganz gerecht wird.

Beethovens zweitgrößer „Hit“ auf dem Liedsektor ist das Goethesche „Kennst du das Land?“, das natürlich eine Frauenstimme verlangt und hier von der Schweizerin Heidi Brunner, einer Mezzosopranistin, gesungen wird. Heidi Brunner verfügt über einen schlanken, klaren Mezzo ohne ein tieferes Timbre, was einer der Gründe gewesen sein dürfte, warum die Sängerin vor einigen Jahren ins Sopranfach wechselte. Nun gehört dieses Gedicht genau wie „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“ zu den Liedern aus Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meister“ und damit zu den am meisten vertonten Gedichten der Weltliteratur überhaupt. Im Roman stirbt das Mädchen Mignon einen frühen und tragischen Tod, weil es als Kind aus seinem Heimatland Italien fortgeholt wurde, seinem kindlichen Paradies, nach dem es sich nun sein kurzes Leben lang zurücksehnt. Mit dem im Hinterkopf wünscht sich der Zuhörer mehr Dramatik und eine deutlich stärker zu Herzen gehende Darstellung als Heidi Brunner dies hier zu geben vermag. Der Schmerz Mignons sollte auch auf einer Schallplattenaufnahme herauszuhören sein.

Die Verse holpern, die Metren stolpern

Den dritten großen Block unter den Beethovenschen Liedern bildet der Zyklus „An die ferne Geliebte“ aus dem Jahr 1816, der von Sehnsucht und stoischer Entsagung handelt. Es ist nicht klar, wem Beethovens Sehnsucht hier galt – seiner unsterblichen Geliebten, die Beethovens Biograph Maynard Solomon als Antonie Brentano identifiziert hat, oder manchen Freunden und Mäzenen wie dem Prinzen Lobkowitz, die alle in dieser Zeit starben. „An die ferne Geliebte“ ist der erste durchkomponierte Liederzyklus in der deutschen Musikgeschichte, eine Folge motivisch und harmonisch dicht miteinander verknüpfter Stücke, die nicht einzeln gesungen werden können. Robert Schumann und Hugo Wolf wurden stark davon beeinflußt. Die Gedichte stammen von einem gewissen Alfred Jeitteles, einem jungen Medizinstudenten, der sie offenbar speziell für Beethoven schrieb. Auch hier sind die Texte nicht gerade erste Sahne, holpern die Verse, stolpern die Metren, reimt Au sich auf lau und Dach auf Gemach, aber das hat den in dieser Hinsicht robusten Beethoven nicht gestört. Der hat zu all dem eine einmal lyrisch-zarte, dann wieder dramatisch-impulsive Musik geschrieben, die noch einen Fritz Wunderlich zu denkwürdigen Aufführungen inspiriert hat. Auch Constantin Graf von Walderdorff wird hier mit einer lyrisch-innigen Interpretation der Sache durchaus gerecht, während die Amerikanerin Kristin Okerlund am Flügel sich deutlich besser schlägt als Wunderlichs Begleiter Heinrich Schmidt.

Insgesamt haben wir es bei diesen fünf CDs mit kompetenten Interpretationen zu tun, die insbesondere wegen ihrer Vollständigkeit eine Bereicherung für alle Kenner des Beethovenschen Liederwerkes darstellen werden. Ein schön bebildertes Begleitheft, das sämtliche Liedtexte und einen kenntnisreichen Essay zu Beethovens Liedschaffen enthält, rundet diese Kassette verdienstvoll ab.

Ludwig van Beethoven, Sämtliche Lieder mit Klavierbegleitung Box-Set mit 5 CDs Thorofon (Bella Musica), 2013

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