© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/13 / 20. September 2013

Vorbei mit lustig
Vor zweihundert Jahren endete die groteske Existenz des napoleonischen Satellitenstaates Königreich Westfalen
Jan von Flocken

Kaum zwei Stunden blieben König Hieronymus Napoleon von Westfalen, um mitsamt Familie und Hofstaat aus seiner Residenz Kassel zu verschwinden. Vor den Toren der Stadt war drohend eine russisch-preußische Streitmacht aufmarschiert. Man schrieb den 28. September 1813.

Sechs Jahre zuvor hatte Frankreichs Kaiser Napoleon I. mitten in Deutschland einen Satellitenstaat installiert, der politisch und militärisch völlig unter französischer Kontrolle stand, das Königreich Westfalen. Zum Herrscher ernannte Napoleon per Dekret vom 18. August 1807 seinen jüngsten Bruder, den 22jährigen Jérôme (Hieronymus). Dessen Residenz wurde die bis dato kurhessische Hauptstadt Kassel. Hier hatten die Franzosen zuvor die wertvollsten Kunstgegenstände aus den Schlössern des Landgrafen beschlagnahmt und in den Pariser Louvre geschafft.

Jérômes neues Königreich setzte sich aus zahlreichen Gebieten zusammen. Dazu gehörten das Herzogtum Braunschweig, Kurhessen, die preußischen Teile der Altmark, Magdeburg, Halberstadt, Goslar, Hildesheim, Quedlinburg, das Eichsfeld, Nordhausen, Paderborn, Minden und Münster. Hinzu kamen hannoversche Territorien, Göttingen, Osnabrück und der Harzdistrikt, einst sächsische Ämter wie Gommern und Querfurt sowie die Grafschaft Mansfeld und die ehemalige Abtei Corvey. Das Königreich zählte zunächst 37.900 Quadratkilometer mit über zwei Millionen Einwohnern und umfaßte 1811 nach Eingliederung weiterer hannoverscher Gebiete 45.400 Quadratkilometer.

Napoleon lieferte dem geistig völlig unterlegenen Neu-König gleich die Grundlagen seiner Regierung frei Haus. Unverblümt schrieb er am 15. November 1807 an Jérôme: „Mein Bruder, beiliegend finden Sie die Verfassung ihres Königreichs (…) Sie müssen sie getreulich befolgen.“ Demgemäß wurde zwar die Leibeigenschaft abgeschafft und Religionsfreiheit eingeführt, aber das Land sah sich wirtschaftlich ausgeplündert und militärisch nahe am Verbluten. Für jeden der zahllosen Kriegszüge des Eroberers mußte Westfalen bis zu 35.000 Soldaten stellen. Allein im Rußland-feldzug 1812 fielen 27.000 Mann.

König Jérôme führte in seiner Residenz ein skandalöses Luxusleben. Eine Besucherin, die Fürstin Pauline zur Lippe, berichtete im Mai 1808 aus Kassel: „Es war unmöglich, nicht an den Harem eines orientalischen Fürsten zu denken. Diese Frauen, die beinahe alle nach einem Blick, nach einem Wort des Gefeierten haschten, witzelten Zweideutigkeiten, kokettierten .(…) Der König, ganz Sultan, betrachtete die Damen mit einer gewissen leichten Verachtung, als denke er: ihr seid meiner Lüste Dienerinnen.“ Der Fama nach erschöpften sich die deutschen Sprachkenntnisse des Monarchen in dem Satz „Morgen wieder lustig“, was ihm den Spitznamen „König Lustig“ einbrachte. Mag das untertrieben sein, so offenbarte Jérôme dem kaiserlichen Bruder seine wahre Gesinnung in einem Brief vom 30. Oktober 1809: „Ich wiederhole es, Sire, ich liebe weder Deutschland noch deutsches Wesen.“

Napoleon beobachtete das ungehemmte Treiben in Kassel mit wachsendem Unmut. „Geben Sie sich nicht einer so unsinnigen Verschwendungssucht hin, die Sie zum Gespött Europas macht und schließlich die Entrüstung ihres Volkes hervorrufen wird“, mahnte er den Bruder im Sommer 1808.

„Verkaufen Sie Ihre Möbel, Ihre Pferde, Ihre Schmucksachen, aber bezahlen Sie Ihre Schulden!“ Dabei sorgte der Kaiser selbst dafür, daß es den Westfalen immer schlechter ging. Zur Belohnung seiner Generale hatte er dem Land nach dem Tilsiter Frieden von 1807 die Hälfte aller Staatsdomänen genommen. Außerdem mußte das Königreich für den Unterhalt der hier stationierten französischen Truppen aufkommen; ab 1810 waren das 15 Millionen Francs jährlich, heute ein Milliardenbetrag.

Gegen die Fremdherrschaft erhob sich schon 1809 im Land massiver Widerstand. Ende April unternahm der westfälische Oberst Wilhelm von Dörnberg in der Stadt Homberg einen Aufstand, dem sich Tausende Bauern anschlossen. Sie wurden zwar geschlagen, aber nun dämmerte es sogar Jérôme, daß sein Reich auf schwachen Füßen stand. „Die Gärung ist auf dem höchsten Grad angelangt“, schrieb er warnend an seinen kaiserlichen Bruder. Auch über die Ursachen des Unmuts zeigte er sich gut informiert: „Der Hauptgrund dieser gefährlichen Bewegungen ist nicht nur der Haß gegen die Franzosen und die Ungeduld, das fremde Joch abzuschütteln; er ist vielmehr im Unglück der Zeiten begründet, in dem völligen Ruin aller Stände, der Vermehrung der Steuern und Kriegsbeiträge, dem Unterhalt der Truppen, dem Durchmarsch der Soldaten und der ständigen Wiederkehr von einer Unzahl Plagen aller Art.“

Diese Warnungen stießen auf taube Ohren. Als im Befreiungskrieg nach der Schlacht bei Dennewitz am 6. September 1813 viele westfälische Soldaten zu den alliierten Preußen und Russen überliefen, war das ein Menetekel. Am 15. September zogen die Preußen über die Elbe nach Westen, Braunschweig wurde am 25. zurückerobert und am 30. marschierten russische Regimenter in Kassel ein. König Jérôme flüchtete nach Koblenz.

Weil die Russen kurze Zeit später Richtung Leipzig zur großen Völkerschlacht zogen, konnten napoleonische Truppen Kassel wieder besetzen und Jérôme kehrte am 16. Oktober hierher zurück. Sein Glück währte ganze zehn Tage. Schon am 26. Oktober zog „König Lustig“ wieder aus Kassel ab mit der Proklamation, er sehe sich „durch Umstände genötigt, einstweilen Westfalen zu verlassen“. Zwei Tage später besetzten russische Truppen unter General Michail Woronzow die Stadt. Die kurze Geschichte des Königreichs Westfalen war beendet.

Foto: König Jérôme Bonaparte mit Frau Katharina: „Ich liebe weder Deutschland noch deutsches Wesen“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen