© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/13 / 20. September 2013

Der Schlüssel zur Einheit des Vaterlandes
Zum Ruhm von Volk und Sprache: Vor hundertfünfzig Jahren starb der Philologe Jacob Grimm
Sebastian Hennig

Eines der poesievollsten und gehaltreichsten Bücher deutscher Sprache ist unzweifelhaft das „Deutsche Wörterbuch“ von Jacob und Wilhelm Grimm. Wer einen der dreiunddreißig Bände zur Hand nimmt, um sich die Herkunft und den ganzen Bedeutungsumfang eines Wortes zu erschließen, stürzt auf engbedruckten Spalten hinab in die ungezählten Wurzelkanäle, durch welche die deutsche Sprache mit den Dingen, Empfindungen und anderen Sprachen verbunden ist.

Doch anders als die nebulösen Informationen des digitalen Netzes, die sich in gleichmäßigen Tröpfchen auf dem Wissenshorizont niederschlagen, um sogleich wieder zu verdunsten, bereichert diese Ablenkung. So als stieße man auf der Suche nach einer Leiter, um einen schorfigen Apfel zu erlangen, auf Körbe voll reifen Obstes. Die Quellenverzeichnisse des Werkes zeigen, wie vieles von dem Bleibenden in unserer Sprache durch die Dichter gestiftet wurde.

Auf den Doppelbildnissen der Philologenbrüder wirkt Wilhelm stets etwas träumerisch, während Jacob eine fast etwas dämonisch wirkende Nüchternheit ins Gesicht geschrieben steht. 1808 wird er als der Älteste der Geschwister durch den Tod der Mutter zum Familien-ernährer. Als privater Bibliothekar des kauderwelschenden „König Lustig“ von Westfalen, Jérôme Bonaparte verdient er bis zur Aufhebung der Fremdherrschaft den Unterhalt. Als kurhessischer Legationssekretär nimmt er am Wiener Kongreß teil und ist an der Rückführung der von den Franzosen geraubten Kunstschätze beteiligt. Als 1837 die Professoren-Brüder unter den „Göttinger Sieben“ sind, die sich gegen die Verfassungsaufhebung durch den König von Hannover wenden, werden auch sie ihres Amtes enthoben.

Im Eingang seiner Vorrede zum „Deutschen Wörterbuch“ zeichnet Jacob Grimm den Zusammenhang mit dem Beginn der Arbeit an seinem folgenreichsten Werk: „in dieser zugleich drückenden und erhebenden lage (…)geschah uns (…) der antrag, unsere unfreiwillige musze auszufüllen und ein neues, groszes wörterbuch der deutschen sprache abzufassen.“

Und so wie die Sprachwissenschaft mit der Dichtung untrennbar verflochten ist, so wird die Sprache für Jacob Grimm zum Schlüssel der Einheit seines vielfältigen Vaterlandes. Deutsch war bereits die Weltsprache der Dichtung und Philosophie, bevor es zur Muttersprache eines einigen Volkes wurde. Zum Vorläufer der Erörterung einer deutschen Nation werden die zwei „Germanisten-Tage“ in Frankfurt 1846 und Lübeck im Folgejahr.

Während Wilhelm dort das Wörterbuch vorstellt, referiert Jacob Grimm über den „Wert der ungenauen Wissenschaften“ und erläutert: „... geschichte, sprachforschung, selbst poesie ist eine allerdings ungenaue wissenschaft.“ Er nimmt für diese in Anspruch, „dasz sie den schwierigsten wagstücken mutvoll entgegengehen, dasz umgekehrt die excacte wissenschaft einer reihe von rätseln ausweicht, deren lösung noch gar nicht herangekommen ist. (…) unsere naturforscher zählen die blätter und staubfäden zahlloser kräuter, ordnen unendliche reihen aller geschöpfe; was ist aber erhebender und betrachtungswerther als das wunder der schöpfung, das über die ganze erde sich ausbreitende menschengeschlecht, das eine überreiche geschichte seiner entfaltung und seiner thaten aufzuweisen hat? darf die gliederung seiner gleichfalls in unendlichen zungen und mundarten gespaltenen rede nicht noch mit stärkerer gewalt an uns treten und unsere wissenschaft auffordern als die glänzendste entdeckung neuer arten von (…) bacillarien? das menschliche in sprache, dichtung, recht und geschichte steht uns näher zu herzen als tiere, pflanzen und elemente; mit denselben waffen siegt das nationale über das fremde.“

Während Wilhelm Grimm den poetischen Märchenerzählstil der „Kinder und Hausmärchen“ ausprägte, wird der Bruder zum Erzvater der deutschen Philologie.

In der Frankfurter Paulskirche sitzt er als fraktionsloser Abgeordneter des rheinpreußischen Wahlkreises Essen-Mülheim an der Ruhr. Theodor Fontane preist den „wundervollen Charakterkopf von schneeweißem Haar umleuchtet“, der auf der Abgeordnetenbank neben Ludwig Uhland zu erblicken war. Während der schwäbische Dichter für eine großdeutsche Einheit plädierte, bevorzugte Grimm ein Deutschland unter preußischer Führung und einen „mächtigen König gegen alle republikanischen Gelüste“. Denn soviel er von der Freiheit hält, sowenig traut er den Parolen von allgemeiner Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen. Er stellt fest: „Jeder Deutsche frei ist (…) und gebunden an sein Vaterland.“

Als er schließlich die beschränkte Wirkung der Versammlung einsehen muß, widmet er sich mit aller Kraft dem, was er wirklich kann, indem er die Arbeit am Wörterbuch vorantreibt. Bis zu seinem Tode am 20. September 1863 dringt er zum Buchstaben F vor. In der langen Vorrede zum ersten Band bekennt er 1854: „Unablässig, nach jedem vermögen das in mir gelegen war, wollte ich zur erkenntnis der deutschen sprache kommen und ihr von allen seiten her ins auge schauen; meine blicke erhellten sich je länger je mehr und sind noch ungetrübt. Aller eitlen prahlsucht feind darf ich behaupten, dasz, gelinge es das begonnene schwere werk zu vollführen, der ruhm unserer sprache und unsers volks, welche beide eins sind, dadurch erhöht sein werde.“

Erst 1971 wurde die Ausgabe mit dem Quellenband abgeschlossen. Und die präzise und gewissenhafte Arbeit an diesem Werk hielt bis in die jüngste Zeit an. Denn das Wörterbuch versagte sich aufgrund der kleinen Drucktype einem digitalen Scan.

So wurde im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft in China jedes Zeichen per Hand zweimal eingegeben. Dabei wurden zugleich die unvermeidlichen Setzfehler der Druckausgabe berichtigt. Dank der Trierer Universität kann man nun auch unterwegs per Internet unversehens in das pulsierende Nervensystem der Muttersprache eintauchen. Keiner unserer Wissenschaftler vermochte sich ein lebendigeres Denkmal zu stiften. Die Gewissenhaftigkeit, mit der er die ungenaue Wissenschaft betrieb, bewirkte Dauer und Kraft.

woerterbuchnetz.de

Foto: Jacob Grimm (1786–1863), Gemälde von Karl Begas, Öl auf Leinwand 1853: Grimm bevorzugte ein Deutschland unter preußischer Führung und einen „mächtigen König gegen alle republikanischen Gelüste“

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