© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/13 / 20. September 2013

Das blaue Wunder
Bei der Bundestagswahl kündigt sich eine Veränderung des Parteiensystems an
Dieter Stein

Kalte Verachtung schlägt den Regierungsparteien aus der bürgerlichen Mitte kurz vor der Bundestagswahl entgegen. Hauptzielscheibe ist die FDP. 2009 erreichte sie mit 14,6 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Nun der Absturz. Holger Steltz-ner, Herausgeber der einst FDP-freundlichen FAZ, fragte diese Woche polemisch: „Muß man jetzt Mitleid mit der FDP haben?“ Um dies sogleich zu verneinen und festzustellen, die Partei habe ihre Wähler „maßlos enttäuscht“. Sie habe ihre Chance vertan, als Korrektiv der Union aufzutreten. Die Jünglinge um Parteichef Philipp Rösler werden als politische Leichtmatrosen wahrgenommen. Sie kapitulierten vor einer nach links driftenden Union, strichen ihre Forderungen nach einer Steuerreform, vor allem aber: Sie waren zu feige, sich der verantwortungslosen Euro-Rettung entgegenzustellen. Mit diesem Betonklotz am Bein reißt die Euro-Krise die FDP in den Abgrund.

Seit Jahren sucht eine wachsende Zahl von frei flottierenden Wechselwählern nach einer Alternative zu den etablierten Parteien. Der Aufstieg der Piratenpartei ab 2010 ist nicht allein mit Netzdebatte, Überwachungsängsten und sektiererischen linken Utopien zu erklären. Es gibt aufgestauten Ärger über eine abgehobene politische Kaste von Partei-Bonzen, die sich arrogant über den Bürgerwillen hinwegsetzt. In der Anfangsphase ihres Erfolges weckten die Piraten Sympathien bei vielen, die sich mehr direkte Mitwirkung wünschten. Mit Ihrer Idee der „flüssigen Demokratie“ hätten sie sich auch den Kritikern der Euro-Rettung öffnen müssen. Hier verweigerten sie sich jedoch.

Selten hat es so viel Bewegung auf den letzten Metern einer Bundestagswahl gegeben. Die Bayernwahl bestätigte nicht nur den Absturz der FDP, sondern auch das Ende des Höhenfluges der Grünen, die nun im Morast unbewältigter Pädophilie-Vergangenheit versinken. Die grünen Spitzenpolitiker ersticken an ihrer überheblichen moralischen Selbstgerechtigkeit.

Wohin wird sich der latente bürgerliche Protest ergießen? Seit Wochen registrieren die Demoskopen den rätselhaften Aufstieg der eurokritischen Partei Alternative für Deutschland. Zwischen zwei und vier Prozent handeln Meinungsforscher die Anti-Euro-Bewegung um Bernd Lucke. Der Chef des Meinungsforschungsinstituts Emnid spricht jedoch von zusätzlich „rund fünf Prozent Protestwählern, die mit dem politischen System unzufrieden sind und einer Partei ihre Stimme geben, die den Etablierten den meisten Ärger macht“.

Der Durchbruch der AfD öffnet eine politische Option. Jahrzehnte galt unumstößlich auf Bundesebene das vom einstigen CSU-Chef Franz Josef Strauß aufgestellte Prinzip, rechts neben der Union dürfe es keine „demokratisch legitimierte Partei“ geben. Abgesehen davon, ob sich die Alternative für Deutschland selbst als „rechts“ in der politischen Gesäßgeographie positioniert – sie wird als bürgerlich-konservative Bewegung verortet und hat sich in groben Umrissen auch eine entsprechende Programmatik gegeben.

Seit dem Untergang der Deutschen Partei vor fünfzig Jahren sind Dutzende Anläufe gescheitert, bürgerliche Protestparteien alternativ zu CDU/CSU und einer unter sozialliberalen Bundesregierungen ab 1969 nach links gewendeten FDP zu etablieren. Mit dem Kreuther Trennungsbeschluß von 1976 hob die CSU kurzzeitig die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU auf und spielte die Ausdehnung der CSU auf alle Bundesländer durch. CSU-Freundeskreise dienten jahrelang als Drohpotential gegen die linkere CDU. Zwei aus der CSU ausgetretene Bundestagsabgeordnete gründeten 1983 die rechtskonservativen Republikaner, die 1989 mit sieben Prozent in das Europaparlament einzogen und dem Bundestagseinzug nahe kamen. Sie scheiterten auf Bundesebene aber genauso wie der 1994 von FDP-Dissidenten und prominenten Klägern gegen den Euro-Maastricht-Vertrag gegründete Bund freier Bürger (BFB), der später in Streit und Spaltungen unterging.

Es gibt eine romantische Sehnsucht nach einer Anti-Parteien-Politik – die realpolitisch in Enttäuschungen münden muß. Eine große Sympathie – auch von dieser Zeitung – begleitete den Bürgerrechtler Joachim Gauck Anfang 2012 in sein Amt als Bundespräsident. Gauck weckte Erwartungen, das Korsett aus Parteienproporz und Politischer Korrektheit aufzubrechen. Diese Hoffnungen wurden bitter enttäuscht. Dennoch: Nie war in den vergangenen Jahrzehnten die Chance für eine tiefgreifende Veränderung des Parteiensystems so groß wie jetzt. Treffen die sich verdichtenden Prognosen zu, dann ist der Einzug der AfD in den Bundestag zum Greifen nahe. Fliegt die FDP auch noch aus dem Bundestag, dem sie seit 1949 ununterbrochen angehört, wäre die politische Sensation perfekt.

Die AfD wird in den letzten Tagen des Wahlkampfes getragen von einer enthusiastischen, Zehntausende freiwillige Helfer zählenden Anhängerschaft. Träges, feiges Bürgertum war offensichtlich gestern. So sammelte die AfD am vergangenen Wochenende binnen 48 Stunden über eine Internet-Aktion über 400.000 Euro Spenden.

Wenn der Pulverdampf des Wahlkampfes verflogen ist, kommen jedoch für die Partei die Mühen der Ebene – und für die Wähler in gewisser Hinsicht die Stunde der Wahrheit: Denn die junge Partei muß in Teilen erst noch klären, wohin programmatisch die Reise gehen soll. Die Partei speist sich aus mehreren kräftigen Quellen, die sie vielfältig machen, deren Strömungen aber auch einen Ausgleich finden müssen: enttäuschte Liberale, enttäuschte Konservative und sogar enttäuschte Linke.

Verfehlt die AfD den Einzug in den Bundestag knapp, hat sie in jedem Fall die Chance für einen zweiten Anlauf: Im Mai 2014 wird ein neues Europaparlament gewählt. Spätestens hier stehen die verfehlte Euro-Politik und Brüsseler Demokratiedefizite im Zentrum des Wahlkampfes.

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