© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Lockerungsübungen
Deutsche Ängste
Karl Heinzen

In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt hat der renommierte Soziologe Heinz Bude jüngst die überraschende These vertreten, daß von einem ängstlichen Nationalcharakter der Deutschen nicht weiter die Rede sein könne. Sie hätten vielmehr die „Risikogesellschaft“ akzeptiert und würden sich gelassen in ihr zurechtfinden. Immerhin seien sie sich jedoch insofern selbst treu geblieben, als sie weiterhin nicht frohen Mutes in die Zukunft blickten.

Die optimistische Einschätzung Budes wird nun jedoch durch eine Umfrage der R+V Versicherung relativiert. Ihr zufolge gibt es unverändert kaum eine Ungewißheit, die nicht bei einer großen Zahl von Bürgern Ängste auslöste. Ein Rückzug ins Private läßt sich ihnen dabei nicht vorwerfen. Viele Deutsche fürchten zwar auch ganz persönliche Katastrophen wie etwa ein Zerbrechen ihrer Partnerschaft, eine schwere Erkrankung oder Vereinsamung im Alter. In der Rangliste der großen Ängste rangieren jedoch gesellschaftliche Probleme ganz vorne – mit der Furcht vor den Konsequenzen der Eurokrise als einsamem Spitzenreiter. Den Bürgern ist somit bewußt, daß das private Glück im Kleinen ein Wunschtraum ist und politische Entscheidungen und Entwicklungen ihr Alltagsleben maßgeblich prägen. Eine bessere Voraussetzung für eine vitale Demokratie ist nicht vorstellbar.

Und doch gibt es viele Nörgler, die sich ihrerseits vor der deutschen Angst ängstigen. Diese Besorgnis ist ausnahmsweise vollkommen unberechtigt. Niemand muß befürchten, daß die Deutschen einen Ausweg aus ihrer psychischen Bedrängnis suchen und dabei auf radikale Gedanken kommen könnten. Sie wissen, daß ihnen niemand ihre Angst nehmen kann, weil sie nun einmal konstitutiv für ihr Lebensgefühl ist. Und sie lehnen politische Experimente ab, da diese ein Wagnis bedeuten und ihnen daher nur neue Sorgen bereiten würden.

In ihrem Bemühen, ja nicht auf falsche Gedanken zu kommen, können sie sogar ihre notorische Politikverdrossenheit für einen Augenblick vergessen. So weist die R+V-Umfrage aus, daß nur noch 45 Prozent der Bürger eine Überforderung der Politiker befürchten. Vor einem Jahr waren es noch zehn Prozent mehr. Die Deutschen, so sehr sie auch als freudlose Miesmacher verschrien sind, verstehen es also sehr wohl, sich die Welt bei Bedarf auch schönzureden.

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