© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

All denjenigen, die in Erwägung ziehen, ihre Wahlentscheidung von Umfrageergebnissen abhängig zu machen, sei ins Gedächtnis gerufen, daß Demoskopie in erster Linie einem Zweck dient: den Herrschenden Herrschaftswissen zu liefern.

In Stockholms Altstadt gibt es ein Institut für „lebendige Geschichte“. Das ist keine Einrichtung zur Pflege des in Skandinavien sehr beliebten Reenactment, sondern hat mit politischer Bildung zu tun. Ausdrücklich geht es den Verantwortlichen um die „Warnung“ vor der „lebensgefährlichen Geschichte“, falls die Teil von Identitätsbildung ist, und um die Klarstellung, daß aus der Historie nur eins zu lernen ist: Toleranz und Gleichheit aller!

Der aktuelle Hinweis – ausgelöst durch die Versteigerung eines angeblich aus Hitlers Besitz stammenden Rings – auf die Tatsache, daß auch amerikanische Soldaten bei und nach der Besetzung Deutschlands Beute machten, hat etwas Rührendes. Die Öffentlichkeit interessiert das kaum, normalerweise wird der Sachverhalt auch nicht thematisiert, sieht man von spektakulären Fällen wie dem Rückkauf des Quedlinburger Domschatzes ab, der 1992 im Nachlaß eines GI gefunden wurde, und entsprechende Erinnerungen im Kollektivgedächtnis verblassen längst. Das hat natürlich mit dem Gründungsmythos der Bundesrepublik zu tun, in dem zwar (anfangs) von der Bosheit und Brutalität der Russen erzählt wurde, aber die Franzosen, Briten und Amerikaner von 1945 nur im Licht zukünftiger Völkerfreundschaft erschienen. Zur Klarstellung: Die eigentliche Kriegsbeute der USA bestand nicht in Kunstwerken oder Goldbeständen, sondern in der Verbringung von etwa 1.000 Spitzenforschern und der Beschlagnahme von 346.000 Patenten, 20.870 Warenzeichen und 50.000 neuen Farbformeln; allein der Wert des Forschungsmaterials der deutschen Luftwaffe, das sie sich aneigneten, wurde auf drei Milliarden US-Dollar beziffert. Zum Vergleich: Aus dem Marshallplan erhielt Westdeutschland 1,4 Milliarden US-Dollar.

Es wundert den Nichtökonomen, daß es die Ökonomen wundert, wenn jetzt China, Indien, Brasilien und all die anderen präsumtiven Wirtschaftsweltmächte in schweres Wasser geraten. Vielleicht hätte man doch die „historische Schule“ der Volkswirtschaft nicht ganz so eilfertig abservieren sollen.

Die Kritik der Angehörigen der NSU-Opfer am „institutionellen“ Rassismus, der unverschämte Forderungskatalog der Türkischen Gemeinde, die siegesgewisse Agitation der Zuwanderungslobby, der auftrumpfende Ton der Asylsuchenden gegenüber deutschen Innenministern, die zum Gespräch mit den „Betroffenen“ laden, das alles hat ein und dieselbe Ursache: den Geruch der Angst, der dem alten weißen Mann aus jeder Pore dringt.

Wer bei gelegentlichen Besuchen Stockholms in den letzten Jahren den Wandel der Bevölkerungsstruktur beobachten konnte, fragt sich zwangsläufig, wo da die „Bereicherung“ stattgefunden hat – im Ästhetischen jedenfalls nicht.

Die Einwanderungspolitik Schwedens ist nicht mit kolonialem Erbe (wie die Großbritanniens, Frankreichs, der Niederlande) oder ökonomischem Eigennutz (wie die der USA, Kanadas, Australiens) zu erklären und geht auch nicht auf eine Sonderform der Vergangenheitsbewältigung zurück (wie die Deutschlands), sondern hat mit Hochmut zu tun. Ideologischem Hochmut, getragen von der Überzeugung, das sozialdemokratische „Volksheim“ entweder im Weltmaßstab zu verwirklichen oder alle Mühseligen und Beladenen in seine Wärmestube aufzunehmen.

Wenn man der eigenen Stichprobe anhand von Wahlplakaten trauen darf, weisen CDU, Grüne und Piraten die geringste Krawattenträgerquote unter den männlichen Bundestagskandidaten auf.

In Schwedens Armeemuseum gibt es erst seit 1990 eine Tafel mit den Namen der Freiwilligen, die zwischen 1939 und 1944 an der Seite Finnlands im Kampf gegen die Sowjet-union gefallen sind; immerhin: „für die Freiheit des Nordens“ und die „Ehre Schwedens“.

Nekrolog: Die Nachrufe auf Hélie de Saint Marc stimmen versöhnlich. Es wird so ein Prozeß abgeschlossen, den Sarkozy eingeleitet hat, als er dem am 26. August Verstorbenen die Ehrenlegion wieder zuerkannte. Erhalten hatte sie Saint Marc ursprünglich für seine Verdienste als résistant und als Offizier in Indochina, aberkannt wurde sie ihm wegen seiner Beteiligung am Putsch in Algerien gegen de Gaulle. Um der Gerechtigkeit willen sei darauf hingewiesen, daß er keineswegs der einzige war, der glaubte, daß man im Kampf für das ewige Frankreich die Besetzung der Deutschen sowenig dulden dürfe wie die Aufgabe der nordafrikanischen Departements des Mutterlands.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 27. September in der JF-Ausgabe 40/13.

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