© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/13 / 06. September 2013

Der Flaneur
Der Lulatsch und sein Bild
Bernd Rademacher

Die Mauer auf dem Spielplatz wird oft das Ziel von Graffiti-Sprayern. Vor allem von solchen, die noch üben müssen. Ihre häßlichen Krakeleien sind wahrlich keine Augenweide. Die Bezirksverwaltung will das Problem dauerhaft lösen. Offenbar besteht die Strategie darin, den Ehrenkodex der Graffitiszene zu nutzen, nach dem ein professionell gestaltetes Bild nicht übermalt wird.

Also bestellt die Kommune einen Auftragssprayer. Morgens kommt er an. Ein jugendlicher Lulatsch mit Baseballkäppi und hängenden Hosen. Er setzt sich erst mal auf die Schaukel und raucht eine. Dann packt er sein Skizzenbuch und die vielen, vielen Spraydosen aus.

Es sind keine normalen Autolackdosen aus dem Baumarkt, sondern spezielle Graffiti-Farben, erklärt er mir freundlich auf meine interessierte Nachfrage. Er hat zwar auch unterschiedliche Sprühkappen dabei, aber er variiert die Linienstärke meist durch verschiedene Abstände zwischen Wand und Dose. Dann legt er los, ich gehe weiter. Als ich später wieder vorbeikomme, kann man schon Skizzen erkennen. Offenbar eine Phantasielandschaft.

Nachmittags komme ich nochmals am Spielplatz entlang. Das Bild ist fast vollständig. Ein Zauberwald, bunte Blasen, eine verwunschene Hütte. Typische Kinderbuchillustration. Ganz nett. Auf dem Rückweg bin ich richtig gespannt auf den letzten Schliff. Er hat noch kräftige Randlinien und Lichtreflexe zugefügt. Ein Kumpel von ihm ist dazugekommen. Die beiden hocken im Sand, lachen und flachsen.

Ich stutze. Auf dem Motiv prangt ein großer bunter Schriftzug. Wie eine Überschrift. Sie überrascht mich. Der Titel gibt dem Bild jetzt eine inhaltliche Bedeutung. Und eine, die ich von einem jugendlichen Sprayer nicht erwartet hätte. Dort steht – „Heimat“.

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