© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/13 / 06. September 2013

Zeitlebens eine Baustelle
Die Grenzen „neuronaler Plastizität“ im Gehirn / Unterschiedliches Lernen in der Kindheit und im Alter?
Christoph Keller

Mit dem Ende der Sommerferien eskaliert in Hamburg ein neuer Schulstreit. Dabei geht es um die von dem Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen am Hamburger Institut für Lehrerfortbildung entwickelte Lernmethode „Lesen durch Schreiben“. Bei diesem umstrittenen Konzept sollen an vielen Grundschulen der SPD-regierten Hansestadt Erst- und Zweitkläßler Worte so aufs Papier bringen, wie sie sie hören. Kritiker warnen Schulsenator Ties Rabe (SPD) davor, den Nachwuchs dieser „Rechtschreibkatastrophe“ auszuliefern.

Denn die auch über Hamburg hinaus verbreitete Duldung des „munteren Drauflosschreibens“, wie die FDP-Schul­expertin Anna von Treuenfels unter Hinweis auf wissenschaftliche Studien Senator Rabe vorwirft, gewöhne Schüler an eine falsche Orthographie, die später schwer oder gar nicht zu korrigieren sei. Für ihre Forderung nach einem Verbot der riskanten Reform könnten die hanseatischen Liberalen auch die jüngsten Resultate von gleich drei Max-Planck-Instituten (MPI) gegen Rabes umstrittenes Experiment ins Feld führen.

Lernen und Gedächtnis stehen derzeit im Zentrum von Untersuchungen der MPIs für Neurobiologie in München-Martinsried, für Kognitions- und Neurowissenschaft in Leipzig sowie für Bildungsforschung in Berlin. Ungeachtet unterschiedlicher Fragestellungen und Methoden lassen sich die Forscher dort von der Vorstellung „neuronaler Plastizität“ des menschlichen Gehirns leiten. Angewandt auf die umstrittene Hamburger Rechtschreibvermittlung, scheint eine solche Konzeption vom flexiblen Hirn, das sich permanent „umbaut“, um auf neue Bedingungen mit verändertem Verhalten zu reagieren, die Kritiker zu widerlegen. Doch nur auf den ersten Blick, da inzwischen zwar das vor 20 Jahren akzeptierte Paradigma als überholt gilt, dem zufolge die Lern- und Anpassungsfähigkeit des Hirns ein Privileg von Kindern und Pubertierenden sei, nach dem Motto: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“ Gemessen an diesem Forschungsstand, wäre es tatsächlich aussichtslos, Jugendliche von einer frühzeitig antrainierten falschen Orthographie abzubringen.

Aber auch unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Denkorgans bleiben Grenzen der Plastizität bestehen. Revidiert wurde nämlich nur die Annahme, daß unser Gehirn sein Gestaltungspotential nach dem 20. Lebensjahr erschöpft hat. Vielmehr verändert es sich zeitlebens, obwohl, wie der Berliner Entwicklungspsychologe Ulman Lindenberger betont, mit fortschreitendem Alter hohe Investitionen nötig sind, um „geistig auf Trab zu bleiben“. Egal, welches anspruchsvolle Hobby man dafür wähle: „Hauptsache, der Kopf qualmt so richtig“. Für optimal hält Lindenberger, der im Berliner MPI mit 200 jüngeren und älteren Erwachsenen ein hunderttägiges Navigationstraining durchführte, räumliche Orientierungsübungen, die Sinneswahrnehmung, Aufmerksamkeit sowie das Gedächtnis fit halten und dem altersbedingten Abbau der grauen Zellen entgegenwirkten. Ein „Navi“ sollte bei der nächsten Städtereise also lieber im Handschuhfach bleiben.

Ungeachtet dieser bislang unterschätzten Veränderungsfähigkeit des alternden Gehirns steht unverrückbar fest, daß der Mensch in der Kindheit besonders leicht lernt. So liegt die sensible Phase für den Spracherwerb – und für den Erwerb der Rechtschreibkompetenz gilt gleiches – zwischen dem ersten Lebensjahr und der Pubertät. Danach, so konstatiert der Münchner MPI-Direktor Tobias Bonhoeffer nüchtern, nehme die Fähigkeit zum Sprachenlernen langsam ab, wenn sie auch nicht völlig versiege. Bonhoeffer, in Berkeley/Kalifornien geboren und einer Wissenschaftlerdynastie entstammend, die von dem Psychiater und Neurologen Karl Bonhoeffer (1868–1948), seinem Urgroßvater, begründet wurde, beschäftigt sich auf dem Biocampus in Martinsried mit den neuronalen Grundlagen des Lernens, angetrieben von der kaum in Ansätzen beantworteten Frage: „Wie speichert das Gehirn, was es einmal erlernt hat?“

Jedenfalls nicht nach dem Prinzip Festplatte. Als Informationsspeicher dienen die Verbindungsstellen zwischen zwei Nervenzellen, die Synapsen. An der Synapse erfolgt die Übertragung des elektrischen Signals zwischen den Zellen durch einen chemischen Botenstoff. Synapsen senden die Signale mit unterschiedlicher Intensität. So bauen sie häufig benutzte Verbindungen aus, reduzieren die wenig benutzten. Synaptischen Plastizität ist daher die Basis für die Anpassungs- und Lernfähigkeit des Gehirns. Dank neuartiger Mikroskopiertechnik konnte Bonhoeffer beobachten, wie besonders aktive Nervenzellen nicht nur die Stärke ihrer Synapsen verändern, sondern auch komplett neue Verbindungen aufbauen oder selten benötigte „schrumpfen“.

Als extrem vereinfachte Faustregel leitet er aus diesen Studien ab: der Ausbau von dendritischen Dornen, den Empfangsantennen einer Zelle, bedeute „lernen“, ihr Abbau „vergessen“. Der endgültige Nachweis dafür, so räumt der Neurobiologe ein, daß diese Prozesse Voraussetzung des Lernens sind, stehe leider noch aus. Doch er setzt auf die enormen Fortschritte der Neurowissenschaften und hält für realisierbar, was bislang als Science-fiction gilt: die gezielte Löschung von Erinnerungen.

Derartig schaurige Perspektiven sind den Leipziger Neurologen unter Leitung Arno Villringers eher fremd. Sie haben anhand von Bewegungsabläufen Boenhoeffers Synapsen-Experimente bestätigt, indem sie nachwiesen, wie die graue Substanz des Gehirn schon nach einstündigem Training seine Struktur verändert. Und sie hoffen auf eine vielfache humanmedizinische Transformation ihrer Trainingsprogramme. So konnten Villringers Balanceübungen das Gleichgewichtsgefühl von Parkinson-Patienten verbessern, Folge eines durch Training erzielten, im Kernspin dokumentierten Zuwachses an grauer Substanz. Nach dem gleichen Prinzip des „lernenden“ Hirns lassen sich Umstrukturierungen in den Belohnungszentren des Gehirns erwirken.

Dies sei „vielleicht“ der „Schlüssel zu dauerhaftem Abnehmen“. Ebenso wären Schäden durch Schlaganfall, vor allem motorische Defizite und Wortfindungsstörungen, zu kompensieren. Körperliches und geistiges Training durch Medikamente zu ersetzen, um dem Gehirn auf die Sprünge zu helfen, hält Villringer zwar für „vielversprechende“ Zukunftsmusik, doch unüberhörbar ist sein skeptischer Unterton, wenn er auf die unbekannten Nebenwirkungen solcher Therapien verweist: „Wir wissen einfach noch nicht genug darüber, wie das Gehirn aussieht, wenn es sich wieder in den gesunden Zustand verwandelt.“

Aktuelles Sonderheft „Neurobiologie: Das flexible Gehirn“ des Wissenschaftsmagazins Max Planck Forschung 1/13: www.mpg.de

Forschungsprojekte der Neurobiologie

www.neuro.mpg.de

Foto: Erkenntnisse über Funktionsweise des Gehirns: Anspruchsvolle Hobbys pflegen, um bis ins hohe Alter geistig auf Trab zu bleiben

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