© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/13 / 30. August 2013

Das Wild ist wie die Wahrheit
Ortega y Gasset philosophiert über die Jagd
Hans-Bernhard Wuermeling

Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) beschrieb 1930 prophetisch den „Aufstand der Massen“: „Wer nicht ‘wie alle’ ist, wer nicht ‘wie alle’ denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.“ Von seinem Freund Graf Ybes wurde er im politischen Asyl 1942 um ein Vorwort zu dessen Buch über die „Hohe Jagd“ gebeten. Die Frage, „was für eine verteufelte Beschäftigung“ die Jagd eigentlich sei, hat ihn damals so gepackt, daß aus dem Vorwort beinahe eine Anthropologie wurde.

Ortega y Gasset stellt fest, daß die früher lebensnotwendige Jagd ein Sport und damit Antwort auf eine im Wesen des Menschen tief begründete Begierde wurde, nämlich aus dem nur Zweckhaften ins Sinnvolle auszutreten. Dem sportlichen Jäger geht es nicht um Tötung des Wildes, sondern darum, sich des Wildes zu bemächtigen. Das Tier soll der Überlegenheit des Menschen nicht ganz ausgeliefert sein. Es muß die Chance haben zu entwischen. In der Jagd als Sport begrenzt der Mensch seine übermäßigen Gaben. Bindung an Vorrechte ist erforderlich, weil es jagdbares Wild nie im Überfluß gibt. Deswegen aber haben Menschen Jagd immer an Vorrechte gebunden.

In der Jagd wird der Ruf „Zurück zur Natur“ verwirklicht. Einmal versucht der Jäger, sich dem Wild gleich zu machen und sich ebenso wie das Wild zu verbergen. Er bedient sich natürlicher Gegner des Wildes, der Hunde oder Falken. Schließlich hat er wie sein Wild, das nicht ahnt, woher eine Gefahr kommt, kein bestimmtes Ziel im Auge, sondern übt „universale Aufmerksamkeit“. Dies aber ist der Reiz der Jagd, denn nie weiß der Jäger, woher (und ob überhaupt) das Wild kommt.

Damit versteht sich der Philosoph im Sinne Platons als Jäger der Wahrheit (Staat, 432 B), die „von dem unwahrscheinlichsten Punkt in der ganzen Runde des Horizonts aufspringt“, wenn er „der wache Mensch“ ist.

Wie der Jäger sein Wild kann auch der Philosoph die Wahrheit verfehlen. Dem Reiz der Jagd scheint das nach Ortega y Gasset nicht zu schaden, denn dem Jäger geht es nur um die Jagd und nicht um das Wild. Ob es aber dem Philosophen nur um die Philosophie und nicht um die Wahrheit geht, darüber darf man nachdenken.

Andreas Schulz-Moll (Hrsg.): José Ortega y Gasset. Meditationen über die Jagd. Dürckheim-Verlag, München 2012, gebunden, 198 Seiten, Abbildungen,
24,85 Euro

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