© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/13 / 30. August 2013

Der Wurzelwerker zeigt Nachsicht
Zeit- und Kulturkritik: Botho Strauß hadert auch in seinem neuen Buch „Lichter des Toren“ mit den Auswüchsen der Massengesellschaft
Thorsten Hinz

Botho Strauß spürt seit Jahrzehnten den Krankheitssymptomen einer Gesellschaft nach, die sich mit jedem Tag aufgeklärter, klüger und überlegener wähnt, aber täglich mehr der Infantilität anheimfällt. Im 20. Jahrhundert war, so Strauß, der Wahn das Synonym für die Entwicklung, heute ist es die Informationsflut. „Der Idiot und seine Zeit“ lautet der programmatische Untertitel seines neuen Buches, das die für Strauß typische Aneinanderreihung thematisch verbundener Parabeln, Beobachtungen, Aphorismen und Reflexionen enthält. Viel sprachliche Schönheit und kluge Einsichten stecken darin, manches klingt verrätselt – auch unnötigerweise –, anderes schillernd, unscharf, einiges allzu bekannt und banal.

Schillernd ist der Begriff des Idioten. Strauß hat zunächst den durch uferlosen Informations- und Kommunikationsfluß deformierten „Info-Dementen“ im Blick. In diesem Opfer eines überspannten und mißglückten Willens zum Weltverstehen erkennt Strauß den Prototypen der neuen Zeit. Doch soll er auch derjenige sein, der die Info-Idiotie überwindet und sich zu einer autonomen Persönlichkeit entwickelt, die jede Empfindung aus sich selber schöpft, „von keiner Welt, keinen Sternen, keinen fremden Augen verursacht“.

Also ist die Verblödung die notwendige Vorstufe für einen kollektiven Aufstieg im Geiste? Das dann doch nicht. Die Erlösung bleibt den Wenigen vorbehalten. In Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“ heißt es, der Mensch müsse wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Zustand der Unschuld zurückzufallen. Bei Strauß, um im Bilde zu bleiben, stopfen die Menschen sich mit den verdorbenen Früchten vom Baum der Informationsgesellschaft voll und lassen sich in einen Zustand wohltuender Betäubung versetzen. Bei den Wenigen sind die Organe und das Sensorium so fein entwickelt, daß sie rebellieren. Diese Avantgardisten geben die Früchte wieder von sich und finden – wissend, aber nicht mehr abhängig – zur Unschuld zurück.

Strauß erkennt in der „Verblödung (den) rebellischen Untergrund des Geistes“. Das ist dialektisch zu verstehen. „Verblödung“ meint hier die individuelle Widerständigkeit gegenüber dem allgemeinen Schwachsinn. Die Fähigkeit dazu sieht er beim Einzelgänger, beim Außenseiter, Toren, aber auch beim „Reaktionär“ und vor allem beim Dichter, deren Ausnahmestellung sie in den Augen der idiotisierten Mehrheit zu – Idioten stempelt. „Der Abgesonderte ist ja der idiotes im antiken Wortsinn.“ Und der Idiot des Botho Strauß ist nichts anderes als die gegenwartsverträgliche Variante des uralten Dichter-Sehers.

Wer Strauß primär wegen des „Bocksgesangs“ schätzt, wird genügend Stoff finden, um seine Wertschätzung zu erneuern. Es gibt scharfe Zeit- und Kulturkritik. „Die Künste, die den Müll der Welt spiegeln, vermehren ihn nur. Den Kunstbegriff gilt es auf Brennpunktgröße zu verengen.“ Das meiste der bundesdeutschen Gesellschaftskritik habe sich als Ramsch erwiesen und verflüchtige sich gerade im Äther der Twitter-Epigonen. Der Rechte sei der „Neugierige“, „den kollektive Selbsttäuschung, routinierter Gesinnungsbetrieb, intellektuelle Liebedienerei erschrecken“ usw.

Zentrale Passagen konnte man bereits in dem Spiegel-Aufsatz über den „Plurimi-Faktor“ (Plurimi gleich die meisten) nachlesen. „Der ästhetische Urfehler ist der Plurimi-Faktor: das Hohe zugunsten des Breiten abzuwerten. Das untere zur obersten Interessensphäre zu machen, (...) Inzwischen paktiert auch die Kunst liebdienerisch mit Quote und breitem Publikum.“ Die Demokratie ist für Strauß ein nützliches formales Verfahren im politischen Raum. Plebiszite über geistige und künstlerische Fragen, über den Bildungskanon, über Geschmack und Werte aber führen notwendig zur Nivellierung. Die Überflutung durch Information und Kommunikation kann das Gefälle zwischen den Dummen und den Klugen, den Wenigen und der Mehrheit nicht einebnen, sie läßt nur das Hintergrundrauschen der Gewöhnlichkeit so laut anschwellen, daß es die feineren Töne verschluckt.

So richtig das alles ist, bieten die Plurimi-Abschnitte trotzdem kaum mehr als einen Aufguß der bekannten Literatur über die Massengesellschaft. Ihr Kennzeichen ist „nicht, daß der gewöhnliche Mensch glaubt, er sei außerordentlich und nicht gewöhnlich, sondern daß er das Recht auf Gewöhnlichkeit und die Gewöhnlichkeit als Recht durchsetzt“. Schrieb Ortega y Gasset vor über achtzig Jahren.

Was also ist neu und interessant in diesem Buch von Strauß? Vordergründig bewegt er sich in einer Endlosschleife der immergleichen Motive und Themen. Bereits 1981 bekundete er in „Paare, Passanten“ seine Verachtung für das „herunterdemokratisierte, formlose Gesellschaftsbewußtsein“, für die Kraftlosigkeit und Selbstzufriedenheit der „Gegenwartsfreaks“ und gab sich überzeugt, daß nur die Kunst uns „vor der totalen Diktatur der Gegenwart“ bewahrt. Die Intensität aber, mit der er die schmalen Wirklichkeitsausschnitte beschreibt, hat sukzessive zugenommen. Sein seismographisches Empfinden für Veränderungen und Verschiebungen, die stattfinden, ist unübertroffen.

In einer eindrücklichen Szene in „Paare, Passanten“ schildert er ein Ehepaar, beide Übersetzer, deren kleine Wohnung vollgestopft ist mit tausenden Büchern und Zeitschriften, „vor allem Zeitschriften“. Am Radio verfolgen sie Nachrichtensendungen aus aller Welt. Diese zwei „überinformierten Köpfe“, die in „einer Höhle voller Zeitgeschehen“ hausen, sind zu keinem Gespräch und keiner Debatte mehr fähig, immerhin aber noch zu „Weltbilder-Duellen“, bei denen sie „sich geschwind im Tanz politischer Positionen“ drehen. Das wäre kaum mehr als ein fruchtloses „l’art pour l’art des reinen Opponierens“, gäbe es nicht einen heimlichen Eifer, eine Energie, die sie antreibt: „eine kluge, unerfüllte Liebe, stark wie am ersten Tag“.

Es gab 1981 für Strauß also noch Alternativen, eine Latenz der Hoffnung und positiven Möglichkeiten. Die Hingabe an Bücher, Zeitschriften und den Rundfunk setzt ja die Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation sowie die Ergebenheit an die Schrift- und Buchkultur voraus. Die Wortduelle zeugen von enormen kongnitiven Fähigkeiten – und der Sehnsucht nach Zuwendung. Dreißig Jahre später ist aus der analogen Besessenheit der digitale Wahnsinn geworden, die Regression fortgeschritten. „600 Millionen Netz-Autoren brauchen kein Buch, sie füllen Rückstände von Schon-Geschriebenem in ein Unbuch.“

So knapp, so radikal lautet das aktuelle Resümee von Botho Strauß, der doch im gleichen Atemzug milder – soll man sagen: altersweise? – geworden ist. Er will kein „Behauptungshäuptling“ mehr sein, stattdessen ein „leiser Frager“ und an einem geistigen „Myzel“ mitwirken. Myzel ist das zarte, unterirdische Wurzelwerk der Pilze.

Gesteigerte Hermetik verbindet sich mit einer ungewohnten Nachsicht. Strauß beharrt einerseits auf dem sakralen Charakter des Buches, der unabhängig ist vom Leserzuspruch, mithin auf der eigenen Exklusivstellung. Andererseits glossiert er ständige Anweisungen zum richtigen Leben und damit auch sich selbst: man verliere so „leicht aus den Augen, daß die schlechte Wirklichkeit ein großes und tiefgründiges Reich ist, in dem kostbare Schätze von Geschehen und Ungeschehen lagern und sich überraschend auftun dem, der keine Konzepte befolgt“. Meilenweit ist das entfernt vom Ruf nach einem großen „Gestaltungswillen“ und der „Illusion von einer Neuen Zeit“, der noch 1997 aus dem „Fehler des Kopisten“ erschallte.

Aus dem Tambourmajor der Konservativen, der dieser Individulaist nie sein wollte, ist ein melancholischer Wurzelwerker geworden.

Botho Strauß: Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit. Diederichs- Verlag, München 2013, gebunden, 175 Seiten, 20 Euro

Foto: Botho Strauß: Widerständigkeit gegen den Schwachsinn

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