© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/13 / 30. August 2013

Mehr Schweiz wagen
Vorbild für Deutschland: Mehr Bürgerrechte, mehr Freiheit, bessere Wirtschaftslage
Philipp Gut

Man ist sich einig: Von Berlin bis Brüssel, von Reykjavik bis Rom gilt die europäische Integration als unumstößliches – teleologisches – Ziel der Geschichte. Der Sog des Integrationsprozesses ist, trotz offenkundiger Konstruktionsfehler, so groß, daß Alternativen für viele schlicht nicht denkbar sind. Entsprechend verständnislos reagieren das Brüsseler Hauptquartier, aber auch Regierungen und Parteien in den Mitgliedstaaten auf Länder wie die Schweiz, die ihren eigenen Weg gehen und weiterhin auf ihre Souveränität pochen. SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück will gar, in der Tradition rhetorischer Großmannssucht, die „Kavallerie“ auf die widerspenstige Alpenrepublik loslassen.

Die Schweiz stört offensichtlich. Aber warum eigentlich? Der liberale Schweizer Historiker Herbert Lüthy traf den Nagel auf den Kopf, indem er die Eidgenossenschaft als „Antithese“ zum bürokratischen Einheitseuropa beschrieb. Sie ist der Stachel im Fleisch des Integrationsprozesses, der daran erinnert, daß es auch anders ginge. Womöglich sogar besser.

Hauptmerkmale des politischen Systems der Schweiz sind die direkte Demokratie, der Föderalismus und eine vergleichsweise liberale Wirtschaftsordnung. Die direkte Demokratie erlaubt eine möglichst umfassende Mitbestimmung der Bürger. Der Föderalismus führt dazu, daß Entscheide dort gefällt werden, wo sie wirken. Die relativ freiheitlichen ökonomischen Rahmenbedingungen bringen Wettbewerbsvorteile, eine gegenüber der EU um ein Mehrfaches tiefere Arbeitslosenquote und Wohlstand für breite Schichten.

Interessanterweise gab und gibt es auch in der Schweiz selber immer wieder Vorbehalte gegen das angebliche „Abseitsstehen“ in Europa. Der Germanist Karl Schmid diagnostizierte besonders bei Künstlern und Intellektuellen ein „Unbehagen im Kleinstaat“ und ungestillte Sehnsüchte nach der großen Geschichte da draußen.

Davor war selbst die Regierung in Bern nicht gefeit. Als die Stimmbürger 1992 nach einem denkwürdigen Abstimmungskampf den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ablehnten, malte der Bundesrat (also die Regierung) den Teufel an die Wand. Der damalige Bundespräsident Delamuraz sprach von einem „schwarzen Sonntag“. Die Wirtschaftkraft werde erlahmen, die Arbeitslosigkeit steigen, der Franken zerfallen, wenn sich die Schweiz nicht der EU anschließe.

Eingetreten ist das Gegenteil, der sogenannte Alleingang erwies sich als Garant des politischen und wirtschaftlichen Erfolgs. Offensichtlich wußten es die Bürger besser als das versammelte Establishment aus Politik, Wirtschaft, Kultur, das geschlossen für den EWR-Beitritt votierte. Die direkte Demokratie führt auf Dauer zu vernünftigeren Entscheiden und zu besseren Resultaten für alle.

Der Umstand, daß die Bürger nicht nur alle paar Jahre das Parlament bestellen, sondern nach intensiven öffentlichen Debatten auch in Sachfragen entscheiden können, verbessert nicht bloß die Qualität demokratischer Entscheide. Er reduziert auch die Entfremdungstendenzen, die zwischen Bürgern und Politikern in anderen Ländern spürbar sind.

Die Tatsache, daß allein in den letzten Jahren Zehntausende hochqualifizierter Deutscher in die Schweiz gezogen sind, spricht für die anhaltende Attraktivität des Landes. Dieser Erfolg ist nicht gottgegeben; er verdankt sich dem Umstand, daß die Bürger ihr Schicksal selber in die Hand nehmen. Das gilt insbesondere auch für die Wirtschafts- und Steuerpolitik, wie konkrete Beispiele zeigen.

Während der Mehrwertsteuersatz in Deutschland satte 19 Prozent beträgt (und in einigen EU-Ländern sogar 25 Prozent), liegt er in der Schweiz bei weniger als der Hälfte, nämlich bei 8 Prozent. Generell sind die Steuersätze tiefer, weil die Bürger selber darüber befinden können. Der Abzocke durch die Politiker, die naturgemäß ständig mehr Geld für Staatsaufgaben reklamieren, ist ein Riegel vorgeschoben.

Auch eine Schuldenkrise, wie sie viele EU-Länder plagt, wäre in der Schweiz nicht möglich. Es existiert – weltweit einzigartig – eine sogenannte Schuldenbremse, die automatisch greift, wenn der Staat mit seinen Ausgaben ein Limit überschreiten will. Auch dieses Instrument ist klugem Bürgersinn zu verdanken, der den öffentlichen Haushalt ebenso verantwortungsvoll betreut wie den privaten.

Schließlich, um ein letztes Beispiel zu nennen, ist die Schweiz dank der direkten Demokratie und der kollektiven Vernunft der Stimmbürger eines der wenigen europäischen Länder geblieben, das die ökonomische Einsicht beherzigt hat, daß Währungsräume und politische Räume identisch sein sollten. Von der Euro-Krise ist sie deshalb nur indirekt betroffen.

Wenn der wirtschaftliche und politische Erfolg der Schweiz als Beispiel dienen kann, dann ist das Rezept letztlich ein einfaches und bescheidenes: Laßt die Bürger entscheiden, nicht die politische Klasse! Denn sie können es besser.

 

Dr. Philipp Gut ist stellvertretender Chefredakteur des Schweizer Magazins Weltwoche und Buchautor („Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur“). Jüngst gab er den Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und Hermann Hubacher heraus.

In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt einen Beitrag über „Die neuen Jakobiner“ (JF 8/13).

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