© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/13 / 23. August 2013

In unserer Mitte
Vor 250 Jahren von Katharina der Großen ins Land gerufen, vor genau 72 Jahren nach Sibirien und Kasachstan deportiert, haben die meisten Deutschen aus der früheren Sowjetunion heute einen festen Platz in der Bundesrepublik gefunden
Martin Schmidt

Was haben die Sängerinnen Helene Fischer und Jule Neigel, die ehemalige Volleyball-Nationalspielerin Angelina Grün, der Bundesliga-Fußballer Andreas Beck oder der 100-Meter-Sprinter Alex Schaf gemeinsam? – Alle sind sie als rußlanddeutsche Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland gekommen und haben hier Karriere gemacht.

Doch kaum jemand weiß von dieser Herkunft. Auch nicht im Jubiläumsjahr 2013, da man sich des Einladungsmanifests der deutschstämmigen Zarin Katharina der Großen erinnern könnte. Mit dessen Unterzeichung am 22. Juli 1763 im Schloß Peterhof bei Petersburg setzten mehrere Wellen der Zuwanderung deutscher Siedler ein, womit es den Beginn der neuzeitlichen rußlanddeutschen Geschichte größeren Stils markiert.

Heute leben in der Russischen Föderation und den GUS-Staaten schätzungsweise noch 700.000 Deutschstämmige, mit Schwerpunkten in Sibirien und Kasachstan. Die Stalinschen Deportationen nach dem 28. August 1941 und deren verbrecherische Folgen haben die einst so zahlreichen Wolga-, Schwarzmeer- und Kaukasusdeutschen sowie die stolzen deutschen Städter aus Moskau, St. Petersburg oder Saratow total entwurzelt, so daß nach dem Zerfall der UdSSR auch die letzten Hoffnungen auf eine eigenständige ethno-kulturelle Zukunft im postsowjetischen Raum schwanden.

Ihre Eliten waren bereits durch den roten Terror des Klassenmordes bzw. der Kulakenverfolgung in der Zwischenkriegszeit weitgehend liquidiert worden; nach 1945 verunglimpfte man die Rußlanddeutschen als „Vaterlandsverräter“ und „Faschisten“, ermöglichte ihnen so gut wie keine gesellschaftlichen Aufstiegschancen und verbot ihnen die Rückkehr in ihre jeweiligen Heimatgebiete. Eine sich ab 1964 formierende deutsche Autonomiebewegung blieb ebenso erfolglos wie wiederholte großangelegte Unterschriftensammlungen mit dem gleichen Ziel einer Anknüpfung an die territorialen Verhältnisse vor 1941.

Zutiefst resigniert, stellten schon in den Jahren 1956/57 über 80.000 Erwachsene Ausreiseanträge in die Bundesrepublik Deutschland. Bis Ende der Sechziger durften jedoch bloß ganz wenige das Land verlassen; bis 1986 waren es immer noch nur insgesamt 95.107 Deutsche, die die Ausreiseerlaubnis in die Bundesrepublik erhielten, sowie offiziell 16.411 Personen meist deutscher Herkunft, die in die DDR übersiedelten.

Nachdem allein drei im Jahre 1988 vor dem Hintergrund von Gorbatschows Perestroika nach Moskau entsandte „Autonomie“-Abordnungen nur leere Versprechungen aushandeln konnten und sich auch die Hoffnungen der im März 1989 gegründeten sowjetweiten Gesellschaft „Wiedergeburt“ spätestens 1992 zerschlagen hatten, brachen alle Dämme. Von 460 Aussiedlern im Jahr 1985 schnellten die Zahlen auf 147.950 (1990) und auf den Höchststand von 213.214 im Jahr 1994 hoch. Dieser Exodus und eine immer restriktivere bundesdeutsche Aussiedlergesetzgebung sorgten dafür, daß sich im neuen Jahrtausend immer weniger Rußlanddeutsche zwischen Rhein und Oder niederließen. 2010 waren es ganze 2.297 Personen.

Zurück blieben jene, die die Aufnahmekriterien des seit 2005 geltenden Zuwanderungsgesetzes hinsichtlich deutscher Sprachkenntnisse nicht erfüllen (seither müssen sich auch nichtdeutsche Familienmitglieder des Antragstellers einem Sprachtest unterziehen) oder die ihre Zukunft mit Blick auf die eigene, veränderte Identität oder den andersnationalen Ehepartner ohnehin im Osten sehen. Eine Zukunft für die Rußlanddeutschen und die Bewußtmachung ihres Kulturerbes gibt es vor diesem Hintergrund, wenn überhaupt, nur im binnendeutschen Raum.

Doch dort sind die Deutschen aus Rußland vor allem dann ein Medienthema – in der Regel werden sie gar nicht beachtet –, wenn es Schwierigkeiten gibt. Gerade linksideologische Kreise, die andere Minderheiten jedweder Couleur nur zu gern hofieren und sich als deren Interessenwahrer gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft aufspielen, sind schnell bei der Hand, wenn es um wirkliche oder vermeintliche „russische Parallelgesellschaften“ geht. Dann und oft nur dann wird die „Einwanderung in die Sozialsysteme“ angeprangert, und man spricht pauschalierend und mitunter hämisch von „den Russen“, wenn die zwischen Rhein und Oder lebenden bis zu 2,7 Millionen Rußlanddeutschen gemeint sind.

Die zu uns gekommenen Rußlanddeutschen sind geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie sich die öffentliche Wahrnehmung einer größeren Bevölkerungsgruppe in nur anderthalb Jahrzehnten grundlegend verändern kann. Dies hat zuvorderst quantitative Ursachen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zogen rund vier Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland – vor allem Oberschlesier, Rumäniendeutsche und nicht zuletzt Rußlanddeutsche. Die Gesamtzahl der aus der ehemaligen Sowjetunion Übergesiedelten beläuft sich auf über drei Millionen, wobei etwa 120.000 jüdische „Kontingentflüchtlinge“ (letzte offizielle Zahl des Ausländerzentralregisters von 2005 nennt 133.692) und zahlreiche nicht-deutschstämmige Ehepartner und Familienangehörige rußlanddeutscher Aussiedler eingeschlossen sind.

Für die Rußlanddeutschen galt lange, daß sie eine große Bereitschaft zeigten, sich an die örtlichen Verhältnisse anzupassen. Bloß nicht als Aussiedler auffallen, das war oberstes Gebot, zumal man sich vielfach tatsächlich durch Sprache, Kleidung, Eßgewohnheiten oder Wohnungseinrichtung deutlich von den Einheimischen abhob – anders als dies beispielsweise bei den Siebenbürger Sachsen aus Rumänien der Fall war.

Der Wille, die eigene, ohnehin gebrochene kulturelle Identität weiterzutragen, war nur gering ausgeprägt. Speziell die Jüngeren orientierten sich ganz an hiesigen Normen und Moden. Nur bei sehr religiösen Gruppen wie den Mennoniten oder Adventisten bestanden schon immer deutliche Vorbehalte gegen manche typische Aspekte der bundesdeutschen Gesellschaft (diese Gruppen dürften zahlenmäßig inzwischen von erheblicher Bedeutung für das freikirchliche Gemeindeleben in Deutschland sein).

Als Arbeitskräfte waren die Rußlanddeutschen noch bis in die neunziger Jahre hinein ausgesprochen beliebt. Umfragen bei Wirtschaftsunternehmen belegen das. Sie galten als fleißig, unkompliziert, anspruchslos und anpassungsfähig. Bedingt durch die veränderte Struktur der jüngsten – mittlerweile aber fast gänzlich abgeebbten – rußlanddeutschen Aussiedlerwelle (ungleich schlechtere bzw. fehlende Deutschkenntnisse, hoher Anteil andersnationaler Familienmitglieder, rein russische Sozialisation) und die rückläufige soziokulturelle und wirtschaftliche Integrationskraft des Landes lassen sich inzwischen jedoch Tendenzen zur Schaffung einer durch die russische Sprache geprägten eigenen Kulturlandschaft beobachten, die durchaus Züge einer Parallelgesellschaft aufweist. In Gebieten konzentrierter Ansiedlung haben sich ghettoartige Strukturen verfestigt – mit kyrillisch beschrifteten Lebensmittelläden, Buchhandlungen, eigenen Restaurants und Reisebüros oder den vielen sogenannten „Russen-Discos“.

Doch die weitaus meisten der zu uns gekommenen Rußlanddeutschen leben seit Jahren unauffällig als Deutsche unter Deutschen. Tatsächlich existieren längst erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen rußlanddeutschen Milieus im Bundesgebiet und ihren abweichenden Integrationsformen und -stufen, die selbst im internen Rahmen Unverständnis erzeugen und alle Verallgemeinerungen fragwürdig machen. Eine Anfang 2009 erschienene Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung unter dem Titel „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland“ ermittelte ein deutlich besseres Abschneiden der Rußlanddeutschen im Vergleich zu andersnationalen Zuwanderergruppen. Insbesondere die zweite, hier im Lande geborene Generation, unterscheidet sich demnach kaum von den einheimischen Altersgenossen.

Bei den Erklärungsversuchen für die Herausbildung der erwähnten Parallelgesellschaften sollte nicht bloß auf die Selbstausgrenzung vor allem jüngerer Rußlanddeutscher hingewiesen werden, die sich in ihrer Flucht ins „Russische“ manifestiert. Auch die fehlende Bereitschaft der hiesigen Meinungsmacher und mit ihnen eines beträchtlichen Teils der binnendeutschen Bevölkerung, diese Menschen als Landsleute kennenzulernen und innerlich anzunehmen, ist ein Teil des Problems. Vielleicht sogar der wichtigste. Versuche, die gemeinschaftlichen Interessen als rußlanddeutsche Aussiedler im Bundesgebiet durch eine eigenständige Partei zu vertreten, scheiterten mehrfach bereits im Ansatz – mit dem Ergebnis, daß diese Volksgruppe, sofern sie sich überhaupt an Wahlen beteiligt, zu den zuverlässigsten Anhängern von CDU/CSU gehören.

Daß die zwischen Rhein und Oder lebenden Rußlanddeutschen und – gewissermaßen in ihrem „Schlepptau“ – kleinere rein russisch geprägte Gruppen spätestens in wenigen Jahrzehnten integriert sein werden, steht – im Unterschied zu den Millionen Ausländern aus völlig fremden Kulturkreisen – wohl außer Frage. Ebenso sicher scheint, daß es sich im großen und ganzen um keine Assimilation (also eine vollständige Angleichung) handeln kann und besondere Familiengeschichten, Eßgewohnheiten, Verhaltensweisen und nicht zuletzt gut ausgebaute Russischkenntnisse dem Gemeinwesen noch in Generationen zugute kommen können.

Foto: Rußlanddeutsche Mennoniten im sachsen-anhaltinischen Salzwedel 2001: Viele Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion haben eine große Bereitschaft, sich an die örtlichen Verhältnisse anzupassen

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