© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/13 / 23. August 2013

Der Sohn kann nur mit Skrupeln verzeihen
Aus dem Schuhkarton: Peter Schneiders von Kritikern vielfach gelobter Roman „Die Lieben meiner Mutter“ hinterläßt bei Lesern aus der Enkelgeneration einen schalen Geschmack
Ellen Kositza

Peter Schneider Buch „Die Lieben meiner Mutter“ ist, was sein Genre angeht, ein Zwischenwesen. Teils läßt es sich als Roman lesen, teils als Biographie – als Autobiographie gar –, teils als Dokumentation. Dieser literarische Zwitter wurde nun mit seltener Einhelligkeit gelobt, ja gepriesen, und zwar sowohl in den Feuilletons der großen Zeitungen als in vielfältigen Leserrezensionen, die im Internet zu finden sind.

Solche Begeisterung hat gute Gründe für sich. Schneider arbeitet sprachlich sorgfältig und hat das zu Berichtende stimmig komponiert. Man kann seinen empfindsamen, streckenweise skrupulösen Ton wohl mögen. Auch sein Thema, eine leidenschaftlich liebende Frau in den Jahren zwischen Vor- und Nachkrieg – Schneiders eigene Mutter – mag die geneigten Leser berühren. Und doch: Das Buch hinterläßt, dies eine subjektive Wertung, einen schalen, wenn nicht unangenehmen Geschmack.

Schneider wurde 1940 als Sohn des Dirigenten und Komponisten Horst (im Buch: Heinrich) Schneider in Lübeck geboren. Er verbrachte seine frühe Kindheit in Königsberg und in Sachsen. Nach der Bombardierung Dresdens lebte er mit seiner Mutter und den Geschwistern bis 1950 in einem bayrischen Dorf.

Dies sind die Zeit und der Raum, in dem sich die Lieben seiner Mutter einfinden. Schneider gehörte vor der Bundestagswahl 1965 dem Wahlkampftrupp der SPD an, schrieb Reden für Willy Brandt. Später radikalisierte er sich und wurde zu einem Wortführer der Studentenbewegung, bereitete 1967 das „Springer-Tribunal“ vor, betrieb den Aufbau einer proletarischen Linkspartei. Mit den Enttäuschungen und Verirrungen seiner Generation hat er sich früh auseinandergesetzt. Gründlich und abwägend, gleichsam als Halbrenegat, in seinem letzten Buch „Rebellion und Wahn“ (2008).

Ein Schuhkarton begleitet Schneider seit Jahrzehnten. Sein Inhalt: Briefe seiner Mutter. Gelegentliche Versuche, das für ihn fremdartige Sütterlin zu entziffern, hatte er rasch aufgegeben. Ein Umstand von mächtiger Symbolwirkung: daß die Worte der Eltern, der „Generation mit Hitler“, zu einer unverständlichen Fremdsprache geworden sind! Schneider hat das papierne Konvolut nun mit Hilfe einer Freundin übersetzt. Eine Parallelwelt zur Sphäre seines eigenen kindlichen Erlebens offenbart sich ihm. Während er selbst damals in einem erpresserischen Subordinationsverhältnis zu einem älteren Jungen, Willy, befangen war und ganz für den Erzengel Michael lebte, der ihm durch Fürsprache von Willy die Gabe des Fliegens verleihen sollte, unterhielt seine Mutter Liebschaften.

Eine in der Hauptsache, zu Andreas, einem Freund und Kollegen ihres Gatten. Dieser „Andreas“, der allenfalls spröde auf die vor Liebestaumel berstenden Hymnen antwortet, der selbst verheiratet ist und sich den erdrückenden Liebkosungen der Kollegenfrau wortkarg entzieht, ist leicht als Günther Rennert zu dechiffrieren, Opernregisseur von Rang. Vor, nach und während der kräftezehrenden Liaision mit „Andreas“– der zugleich, um die Konstellation auf die Spitze zu treiben, ein Verhältnis mit der besten Freundin von Schneiders Mutter pflegte – unterhielt die Verheiratete weitere Affären, oft mit Kollegen ihres Mannes. Bald nach Kriegsende starb sie. Eine langwierige Unterleibserkrankung hatte sie schon in den umtriebigen Jahren zuvor häufig aufs Krankenbett gezwungen.

Der Sohn und Autor ist fasziniert von der rätselhaften Frau, die seine Mutter war, von der „Radikalität, mit der sie sich ihren Gefühlen stellte“. Für einen Außenstehenden könnte ein anderes Gefühl dominieren: Befremdung, ja Abstoßung. Hier schreibt ein liebender Sohn, der als Kind seine Mutter verlor. Der Mutters Klagen, sie sei ein „dreckbeseitigendes Haustier“, verstehend nachvollzieht, der begreift, daß sie lieber eine Karriere als Schriftstellerin eingeschlagen, daß sie gern in kunstsinnigen Salons reüssiert hätte.

In ihren eindringlichen Liebesbriefen an ihre Männer schlägt die Mutter, über Jahre kreuz und quer durch Deutschland reisend – stets ohne Gatten, der sich Ruhe zum Komponieren erbeten hatte, aber durchgehend mit einem Kindermädchen an der Seite, das ihr die Kapriolen ermöglichte –, einen hohen Ton an, der in seiner Permanenz schrill wirkt: „Und wenn du deinen Atem auf kalten, unbarmherzigen Stein hauchtest, ich nähme ihn auf, lebendig und blutwarm – mein Herz wünscht sich nur, daß du in ihm eine Heimat fändest, so wie in einem guten stillen Haus, das immer da ist, ruhend und wartend!“

Wir sehen Dresden fallen, wir lesen von Granateneinschlägen, nur Meter entfernt, wir lesen von Hunger und allumfassender Not – und Schneider wundert sich, wie konventionell und scheu die Mutter über „ihre sexuellen Offenbarungen“ spricht. „Haben nicht schon in jener Zeit Frauen wie Anaïs Nin ganz offen über den Tumult ihrer körperlichen Begierden geschrieben?“ Klar, die französische Schriftstellerin Nin wäre noch jedem eingefallen.

Wir wissen, daß das profane Leben weiterging auch in Zeiten des Krieges. Daß trotz existentieller Not geliebt, gehaßt, betrogen und verziehen wurde. Harald Martenstein hatte vor Jahren mit seinem wunderbaren Roman „Heimweg“ diese privatistische Gemengelage in dunkler Zeit nicht ohne Pikanterie beschrieben. Hier, in Schneiders Fall, steht man ratlos.

Der Vater hat die selbstquälerischen, seelisch einseitigen Liebeleien seiner Frau nicht nur toleriert, sondern befördert. Weshalb? Weil er ahnte, daß seine Frau diese (fragwürdigen) Lichtblicke brauchte, um nicht der Depression anheimzufallen, mutmaßt der Autor. Die Mutter spricht nicht nur von Liebe in ihren Aufzeichnungen und Briefen. Sie hat einen Zug entlassener KZ-Häftlinge gesehen. „Mit so verzerrten Gesichtern“, schreibt sie, „grauenvoll! Die Bilder der verkohlten und verbrannten Menschen in Dresden sind nichts gegen das Leid dieser Unglücklichen.“ Da stand die Mutter bereits auf der moralisch richtigen Seite.

Vorher freilich hatte es dem Sohn schier den Magen umgedreht: „Schön ist‘s, daß du dich in der HJ wohl fühlst“, hatte die Mutter 1935 geschrieben. Da wollte der Sohn die Lektüre schon beenden. Und gar 1941, da ließ sich der Gatte, wiewohl parteilos, im Führerhauptquartier bewirten! Hätte der Sohn vierzig Jahre vorher davon gewußt, schreibt er, er hätte die „Beziehung“ zum Vater wohl abgebrochen. Immerhin kommt Schneider heute, gereift, zu einem abwägenden, klugen Urteil: „Wir, die wir über unsere Eltern urteilen und urteilen müssen, stecken selbst in Anfängen, deren Ende wir nicht kennen.“

So wird hier abermals aufgearbeitet, nicht nur das mütterliche Sonderleben, sondern das ganze Mitläuferunheil. Nur mit Skrupeln verzeiht Schneider seiner Mutter, daß sie Winifred Wagner um Obdach gebeten hatte. Acht Tage lebten die Schneiderkinder samt Mutter im Festspielhaus. Er will ihr den überlebenswichtigen Kontakt zur NS-Wagnerin nicht vorhalten. „Und doch! Andere Mütter, die Winifred Wagner nicht kannten, mußten damals von einem Dorf zum anderen irren.“ Da kann einer, Kind der Kriegsgeneration, die Schrift der Mutter nicht lesen. Analog darf es wohl einem Leser der Enkelgeneration schwerfallen, Schneiders Blickwinkel zu teilen.

Peter Schneider ist am 27. August zu Gast in der RBB-Sendung „Thadeusz“ um 22.15 Uhr.

Am 31. August liest Schneider aus seinem Buch„Die Lieben meiner Mutter“ um 17.30 Uhr auf dem Poetenfest in Erlangen und am 30. Oktober um 19.30 Uhr in der Humboldt-Bibliothek in Berlin-Tegel.

Peter Schneider: Die Lieben meiner Mutter. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, gebunden, 299 Seiten, 19,99 Euro

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