© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/13 / 23. August 2013

Pankraz,
P. Lafargue und das Recht auf Faulheit

Willkommen im Klub der Faulenzer!“ So betitelte das in Palermo erscheinende Giornale di Sicilia einen Bericht über die Vorgänge in Mainz. Es war natürlich ironisch gemeint. Daß in einer (sogar ziemlich großen) europäischen Stadt just während der Hauptreisezeit der Betrieb im Hauptbahnhof eingestellt werden mußte, weil sämtliche Weichensteller gleichzeitig in Urlaub gehen – und das in einem Land, das so stolz auf seinen angestammten Fleiß und sein Organisationstalent ist: das reizte zum Lachen, aber auch zur Nachdenklichkeit.

War es wirklich nur Hochmut, der bekanntlich vor dem Fall kommt? Oder stand dahinter vielleicht doch eine von Gewerkschaften und heimlichen Anarcho-Syndikalisten bewußt angewandte Krisenstrategie, die ein grelles Schlaglicht darauf werfen sollte, wie sehr das von der Arbeiterbewegung einst so stürmisch behauptete „Recht auf Faulheit“ heutzutage im Zeichen eines entfesselten Neo-Liberalismus von den herrschenden Gewalten ignoriert und frech beiseite geräumt wird?

Schließlich war es kein Geringerer als der leibhaftige Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue (1842–1911), gewesen, der das „Recht auf Faulheit“ in einem spektakulären Buch gleichen Titels von 1883 zu Ruhm und theoretischer Tiefenschärfe geführt hatte. Er hielt sich dabei streng an die Denkkategorien seines Schwiegervaters und deduzierte, daß es beileibe kein „Recht auf Arbeit“ gebe, wohl aber eben das „Recht auf Faulheit“. Nur die Inanspruchnahme dieses Rechtes schütze die Proletarier vor hemmungsloser Ausbeutung und ermögliche ihnen ein gediegenes Leben.

Lafargue stand mit seiner Theorie keineswegs allein in der internationalen Arbeiterbewegung, im Gegenteil. Zusammen mit Jules Guesde gründete er in Frankreich den „Parti ouvrier“, die erste rein marxistische Partei Europas, welche zeitweise eine Menge Zulauf hatte. Eduard Bernstein nannte ihn den „geistig bedeutendsten Führer des Sozialismus“. Bei Lafargues Beerdigung 1911 auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise folgten 15.000 Menschen dem Sarg, und Lenin hielt am offenen Grab die Leichenrede.

Trotzdem hat es danach nie einen ernsthaften Versuch gegeben, die Faulheit gleichsam in den semantischen Adelsstand zu erheben; auch in den erklärten Arbeiterparteien nicht, die auf der Unterscheidung zwischen guter „geistiger Arbeit“ einerseits, schlechter „körperlicher Arbeit“ andererseits beharrten. Sie mußten zur Kenntnis nehmen, daß die „körperliche Arbeit“ in ihrer modernen Form keineswegs mehr jener Orkus von Abnutzung und Stumpfsinn ist, als der sie beispielsweise von Autoren wie Günter Wallraff oder Max von der Grün hingestellt wurde.

Brutale Knochenarbeit, die dem Menschen keine Möglichkeit zur Reproduktion seiner physischen und nervlichen Kräfte mehr läßt, kommt in unseren Breiten faktisch nicht mehr vor. Das dominierende „körperliche“ Arbeitsverhältnis ist eine Mischung aus gleichförmigen Handgriffen, scharfer Beobachtung maschineller Abläufe und dem Ertragen gewisser psycho-physischer Belastungen wie Lärm, Geruchsbelästigung oder Unfallgefahr. Das Ganze ist zeitlich scharf limitiert und bietet selbst dem, der ohne Ehrgeiz ist, die Chance eines zumindest finanziellen Aufstiegs per Lohn-erhöhung usw.

Geistig kreative, „freie“ Arbeit kennt dagegen weder Zeitlimit noch finanzielle Sicherheit. Wer etwas in ihr leisten will, der muß sich aus eigener Kraft dazu zwingen; keine 36-Stunden-Woche springt ihm entlastend bei. Und wenn, wie einstmals im Kreis des genialischen Alf Brustellin, pathetisch davon gesprochen wird, daß die „freien“ Arbeiter doch immerhin „machen, was sie selbst (und nicht andere) machen wollen“, so wäre dem lapidar mit Hegel zu erwidern: Die Lorbeeren des bloßen Wollens haben nie gegrünt!

Zwischen Wollen und Resultat haben die Götter den Schweiß des Verwirklichens gesetzt, mit all seinen Aporien und demütigenden Niederlagen und mit der unheilschwangeren Möglichkeit, daß am Ende doch die gesamte Mühe umsonst gewesen ist und nicht einmal mit Geld honoriert wird. Wenn man es recht bedenkt, so gilt der biblische Fluch über die Arbeit viel mehr für die „freie geistige“ denn für die „unfreie körperliche“: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, dein Acker sei verflucht, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.“

edeutende Schriftsteller und Künstler aller Zeiten haben von dem Fluch und der Mühsal der „freien“ Arbeit Kunde gegeben. Pankraz denkt daran, wie grau und preußisch-diszipliniert zum Beispiel der Arbeitstag von Thomas Mann ausgesehen hat. Und ihm fällt der Dr. Raoul Überbein aus dessen Roman „Königliche Hoheit“ ein, der wohl als erster darauf hinwies, daß dem „freien Geistesarbeiter“ oft genug auch noch die Faulheit, „die Muße“, zwanghaft zur Arbeit mißrät, daß gegebenenfalls ganze Wochen unfroher Faulenzerei notwendig sind, um einem fruchtbaren Einfall endlich zum Durchbruch zu verhelfen.

Dagegen halte man also den fundamentalen Satz von Karl Marx, der seinem Schwiegersohn solchen Eindruck gemacht hat: „Das Reich der Freiheit beginnt jenseits der Arbeit!“ Das ist völlig lebensfremd, liegt fundamental daneben. Denn in Wirklichkeit besteht engste Koinzidenz zwischen Freiheit und Arbeit. Der Mensch ist wahrhaftig ein Arbeitstier, körperlich wie geistig Die Arbeit hält seinen Körper in Schwung, bildet seinen Geist, wärmt, fast noch mehr als die Liebe, seine Erinnerung.

Natürlich gehört Muße dazu, also Ruhepausen, Erholung, Abschaltenkönnen. Aber nie und nimmer gehört Faulheit dazu, auch keine Faulheit à la Paul Lafargue. Echte Muße und Faulheit sind nicht deckungsgleich. „Faulheit ist die Dummheit des Körpers, Dummheit ist die Faulheit des Geistes“ (Johann Gottfried Seume). Einem Klub der Faulenzer sollte man nie beitreten, unter welcher Parole auch immer. Wenn es eine Lehre aus der blamablen Affäre um die Urlauber im Stellwerk Mainz Hauptbahnhof gibt, dann diese.

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