© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

Es sollte die ganz große Geschichte werden
25 Jahre danach: Die Geiselnahme von Gladbeck hat den deutschen Journalismus verändert
Christian Schreiber

Es waren drei Tage und rund 1.000 Kilometer, die die Presselandschaft der Bundesrepublik veränderten. Bis heute bleibt es einer der umstrittensten Momente der deutschen Mediengeschichte. Vor fast genau 25 Jahren, am 16. August 1988, überfielen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski eine Bankfiliale im westfälischen Gladbeck. Beide sind notorische Kriminelle, Rösner mehr als Degowski. Zwei Jahre lang war er untergetaucht, nachdem er von einem Hafturlaub nicht zurückgekehrt war. Jetzt plant er „ein großes Ding“, wie er es gegenüber Degowski ausdrückt. „Ein großes Ding“ heißt auch ein Film aus dem Jahr 1999, der sich mit den Geschehnissen im August 1988 beschäftigt und der nun, rechtzeitig zum 25. Jahrestag, auf DVD erschienen ist und die als „Geiseldrama von Gladbeck“ bezeichnete Verbrechensserie aufarbeitet und aufzeigt, wie Reporter zu Beteiligten wurden. Aber der Reihe nach.

Am 16. August nehmen Rösner und Degowski in einer Bank zwei Geiseln, die bald darauf bei Sendern und Zeitungen anrufen müssen, um die Forderungen der Entführer mitzuteilen. Und die Medien spielen mit. Am hellichten Tag dröhnt Rösners Stimme über den Äther eines Lokalsenders, TV-Anstalten schließen sich an, und die Polizei leistet sich eine Panne nach der anderen. Mehrfach verstreicht die Möglichkeit zum Zugriff. Am Abend des 16. August treten die Gangster zu einer Reise ohne Ziel an, fahren kreuz und quer durch Nordrhein-Westfalen, überqueren die holländische Grenze und kehren zurück ins Rheinland. Sie wechseln die Geiseln und die Fluchtfahrzeuge, zwischendurch steigt noch Rösners Freundin Marion Löblich zu.

Die Polizei fährt hinterher, greift aber nicht ein. Dafür rücken die Journalisten den Geiselgangstern auf die Pelle. Am nächsten Tag eskaliert die Situation. Das Trio ist mittlerweile nach Bremen gefahren und hat dort einen Bus mit 25 Insassen gekapert. An einer Raststätte kommt es zur Katastrophe. Marion Löblich wird kurzzeitig festgenommen, als sie zur Toilette geht. Bevor sie freigelassen werden kann, schießt Degowski dem 15jährigen Emanuele de Giorgi in den Kopf. Reporter tragen den Schwerverletzten aus dem Bus. Einer von ihnen hält den Kopf des sterbenden Jungen in die Kamera. Währenddessen führen Journalisten im Bus Interviews mit Tätern und Geiseln. „In ihrem Bemühen um möglichst aktuelle Berichterstattung und Interviews verloren die Pressevertreter jede Distanz zum Geschehen, insbesondere zur Zwangslage der Geiseln“, wird ein Gericht später urteilen.

Die beiden Gangster genießen die öffentliche Aufmerksamkeit. Vor dem Bus gibt Rösner eine Pressekonferenz. Medienwirksam steckt er sich den Lauf seiner Pistole in den Mund. Der Bus ist mittlerweile in die Niederlande gefahren. Dort verlassen die Gangster das Fahrzeug und lassen die meisten Geiseln frei. Mit zwei jungen Frauen, Silke Bischoff und Ines V., fahren sie nach Köln. Dort machen sie mitten in der Fußgängerzone halt, ausgerechnet vor der Redaktion des Express. Als einer der ersten ist Udo Röbel vor Ort. Der spätere Chefredakteur der Bild-Zeitung verhandelt mit den Entführern, bietet sich als Austauschgeisel an. Schließlich fährt er in ihrem Auto mit und zeigt ihnen den Weg zur Autobahn. Nachdem er ausgestiegen war, nimmt das Drama seinen Lauf.

Kurz vor der Grenze nach Rheinland-Pfalz greift die Polizei ein. Ein wilder Schußwechsel entsteht, im Kugelhagel stirbt die 18 Jahre alte Silke Bischoff. Rösner und Degowski überleben verletzt und sitzen bis heute im Gefängnis. Ein Gutachter kam in der vergangenen Woche zum Schluß, Degowksi dürfe nicht freigelassen werden. Erst nach der Festnahme kommen die Journalisten wieder zur Besinnung. „Unser Verhalten war obszön kumpelhaft und anbiedernd“, sagte Röbel später und kritisierte sich und seine Kollegen: „Wir waren wie im Rausch.“ Während der Tage von Gladbeck fielen alle journalistischen Hemmungen. Hauptsache schneller, Hauptsache exklusiver. „Gladbeck wurde zum Sündenfall einer Branche“, schrieb der Focus rückblickend. Als Folge wurde der Pressekodex, die Leitlinien für journalistische Arbeit in Deutschland, ergänzt. Eigenmächtige Vermittlungsversuche zwischen Verbrechern und Polizei sind demnach zu unterlassen. „Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens darf es nicht geben“, heißt es.

Zudem sind die Kommunikationsregeln zwischen Polizei und Medien neu aufgestellt worden. Doch es darf bezweifelt werden, ob sich alle Journalisten daran halten werden, sollte wieder einmal „ein großes Ding“ steigen. Die DVD fängt die Ereignisse meisterhaft ein, was vor allem an den starken Darstellern Richy Müller, Jürgen Vogel und Katja Flint liegt. Eine Dokumentation ist der Film darüber hinaus nicht, einige Charaktere wurden ausgetauscht, Orte verändert. Doch als Anschauungsobjekt, um die Erinnerung an ein Kollektivversagen von Medien und Polizei zu erhalten, taugt der Streifen allemal.

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