© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

Pankraz,
W. Laqueur und das vergreiste Europa

Nach dem Fall ist vor dem Fall. Jedenfalls bei Walter Laqueur, dem ehrwürdigen, in Breslau geborenen amerikanischen Politologen vom Jahrgang 1921, den sichtlich das Schicksal seines alten Europas umtreibt und der in seinem berühmten Buch von 2006 „Die letzten Tage von Europa“ verkündete. Aber die letzten Tage zogen sich danach ziemlich hin, und so gibt es jetzt ein neues Buch von Laqueur zum Thema: „Europa nach dem Fall“ (Herbig Verlag München, 360 Seiten, 24,99 Euro). Und es geht dort um dieselben Probleme wie vor dem Fall.

Wiederum beklagt der Autor die Vielfalt der Sprachen und Kulturen in Europa, seinen „natürlichen Nationalismus“, welcher den alten Kontinent von vornherein daran hindere, jemals wieder eine geopolitische Großmachtrolle zu übernehmen und mit China, Rußland und den USA auf gleicher diplomatischer Augenhöhe zu verkehren. Europa könne nur noch als „sanfte Macht“ international tätig werden.

Vor allem aber treibt Laqueur die demograpische Frage um. Europa sei ein vergreister beziehungsweise rapide vergreisender Kontinent, heißt es übereinstimmend in beiden Büchern, und von daher rührten alle Schwierigkeiten, rechtfertigten sich alle pessimistischen Prognosen. 1900 lebten 21 Prozent der Weltbevölkerung in Europa, heute seien es noch knapp 12 Prozent, und am Ende des Jahrhunderts würden es laut UN-Schätzung weniger als vier Prozent sein. Zugleich verändere sich die Bevölkerungsstruktur grundlegend: In gut fünfzig Jahren werde Europa wohl nichts weiter mehr sein als ein islamisches Kalifat.

Dies nämlich, prophezeit Laqueur, sei die zweite Komponente im Prozeß der Vergreisung: Die Einwanderer aus den muslimischen Ländern ließen sich nicht integrieren, sie – und vor allem ihre intellektuellen Wortführer – dächten gar nicht daran, sich an die in Europa herrschenden kulturellen Standards anzupassen, im Gegenteil, es gehe ihnen einzig darum, ihre eigene Kultur, ihre eigenen Bräuche und Gesetze in Europa zu etablieren und es so eben peu à peu in ein Kalifat zu verwandeln. Und die einheinischen Politiker und Behörden sähen diesem Treiben teils ratlos, teils sogar zustimmend zu.

Pankraz findet die Interventionen Laqueurs sehr nützlich und die Diskussion belebend; soweit der Mann Tatbestände benennt, ist ihm weitgehend zuzustimmen. Anders steht es mit seinen analytischen Einschätzungen und Prognosen. Schon die von ihm bevorzugten Sprachtopoi lösen Unbehagen aus. „Vergreiste Gesellschaft“ – was heißt das eigentlich? Der Begriff ist negativ besetzt, läßt an Niedergang und nahen Tod denken, doch es ist ein ausschließlich psychologisch-medizinischer Begriff. Taugt er überhaupt zur Benennung sozialer und staatspolitischer oder wenigstens allgemein-kultureller Verhältnisse?

Ein Blick etwa auf die gegenwärtige, laut Laqueur „vergreiste“ deutsche Gesellschaft, ob nun vor oder nach dem Fall, zeigt ohne jeden Zweifel ein gutgeordnetes, wirtschaftlich hocheffizientes Gemeinwesen, das unzähligen außereuropäischen Menschenmassen als Lebensvorbild, ja sogar als Wunschziel und Paradiesersatz dient. Zur gleichen Zeit erscheinen die vor Jugend regelrecht überquellenden muslimischen Gesellschaften des Vorderen Orients als Dauerhorte permanenter Unruhe und Gewalttätigkeit, wo fast nichts mehr funktioniert, alles drunter und drüber geht. „Jugendgesellschaft“ = Zukunftsgesellschaft? Wo denn?

Bei Laqueur rangiert das kontinuierliche, rein quantitative Bevölkerungswachstum als feststehende positive Kategorie. Dabei steht doch längst fast, daß die Hauptgefahr für das Gedeihen und Überleben der Menschheit wie auch der einzelnen Staaten in der drohenden Übervölkerung besteht! Während die Natur für Tier- und Pflanzengemeinschaften zur Regelung optimaler Bevölkerungsdichte die sogenannte Schwarmintelligenz bereithält, vermehrt sich die moderne Menschheit ungeordnet und unkontrolliert in riesigen Zuwachssprüngen, die immer riesiger – und immer gefährlicher werden.

Jede spontane oder staatlich organisierte Geburtenbeschränkung in der einen Kultur wird von anderen sofort niedergewalzt durch spontane oder auch gewollte geburtliche „Überproduktion“. Die Jugend findet keine Jobs und keine Lebensperspektive mehr, es wachsen die innerstaatlichen Aggressionen, die sich schließlich nach außen entladen, vor allem in Form von illegaler, integrationsunwilliger Masseneinwanderung in „Gaststaaten“ und der Bildung von rechtsfreien, sprich: von kriminellen Banden und Regeln beherrschten, „autonomen“ Bezirken in den Zielstaaten.

Immerhin, die integrationsunwilligen Masseneinwanderungen nach Europa werden in den Büchern von Walter Laqueur durchaus als einer der Gründe für den europäischen Niedergang markiert. Indes, es ist nicht „einer der Gründe“, sondern der Hauptgrund. Und den Weg in die Misere ebneten nicht irgendwelche Tattergreise, die an nichts mehr interessiert sind und nur noch „Nach mir die Sintflut“ murmeln, sondern ausgesprochen jugendbewegte, „kulturrevolutionäre“ Kreise aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die die Traditionen und Dynamiken Europas ausdrücklich lahmlegen und zum Verschwinden bringen wollten.

Denen ging es um nichts weniger als um kulturelle Bestände, freilich auch nicht um jene einstige europäische Großmachtrolle, deren Verlust Laqueur so ausführlich beklagt. Auf ihren Fahnen stand „Nie wieder Deutschland!“ oder „Hoch lebe Multikulti!“ usw. Unter Kultur verstanden sie Fenstereinschlagen und Sexhaben ohne Kinderkriegen. Die meisten von ihnen sind mittlerweile biologisch vergreist, aber leider ist ihnen dabei kein Gran von Altersweisheit zugewachsen. Just deshalb ist unsere heutige Gesellschaft ja tatsächlich, zumindest teilweise, „vergreist“. Allzu viele Greise sind offenbar auf ihrem alten Niveau stehengeblieben.

Merke dagegen: „Hätte es nie Greise gegeben, hätte es auch nie Staaten gegeben“ (Cicero: „Cato der Ältere“ XIX,67).

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