© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Der Flaneur
Ein Ein-Mann-Flashmob
Bente Holling

Diese Hitze! Im Supermarkt ist es zum Glück mindestens zehn Grad kühler. Am frühen Abend sind die meisten Kunden Studenten. Sie kaufen Six-Packs, Einweg-Grills und Bratwürste. Dann geht’s mit dem Fahrrad an den See oder zu irgendeiner Grünfläche. Man trägt lässige Streetwear, Shorts und Badelatschen.

Plötzlich kommt sein Auftritt: Um die sechzig, heller Anzug (teuer), weißes Hemd (tadellos), schokoladenbraune Krawatte. In der Faust schwingt er einen Gehstock aus dunklem Holz mit silbernem Knauf. Auf dem Kopf trägt er einen Kolonial-Tropenhelm und vor dem Gesicht einen grünen OP-Mundschutz. Hat der einen Bakterien-Tick wie Michael Jackson? Oder ist das ein Bart-Trimmer, der die Gesichtshaarpracht in Form hält?

Ist er wohl ein Künstler? Intellektueller? Reicher Exzentriker? Spinner? Er geht nicht durch die Regalreihen, er paradiert. Straffe Haltung, strammer Schritt. Und offenbar bester Laune. Er legt eine Flasche Mumm-Sekt und eine Schachtel Merci-Schokolade in seinen Korb. Was er damit wohl vorhat? Eine Geliebte besuchen? Aber wie küßt er mit dem Mundschutz? Nimmt er den bei ihr ab? Oder feiert er sich selbst?

An der Kasse scherzt und schäkert er gekonnt mit der jungen hübschen Kassiererin. Sein medizinischer Mundschutz irritiert sie allerdings. Die Jungs hinter ihm sind beeindruckt. Nicht nur von seinen Flirtkünsten, sondern seiner ganzen Erscheinung. Ein bißchen machen sie sich über den schrägen Vogel lustig, aber andererseits scheinen sie fasziniert. Man sieht ihnen an, daß sie sich in ihren Schlabber-Shirts gegenüber dem Gentleman hoffnungslos „underdressed“ fühlen.

Er zahlt und schreitet aus dem Geschäft. Die Kassiererin, die nächsten Kunden und ich sehen uns an. Was war das? Ein Ein-Mann-Flashmob? Jedenfalls der bestgekleidete Einkäufer des Sommers.

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