© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Das US-Ausspähprogramm, die Demokratie und linksliberale Lebenslügen
Die Welt, sie ist nicht so
Peter Kuntze

Daß Carl Schnitts Diktum „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ von zeitloser Gültigkeit ist, erweist sich stets aufs neue: seien es die Kampfdrohnen, mit denen Friedensnobelpreisträger Barack Obama in fernen Staaten echte oder vermeintliche Feinde der USA ohne Gerichtsverfahren töten läßt, was alles Reden über Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als Heuchelei entlarvt; sei es das von Edward Snowden enthüllte weltweite Überwachungs- und Spionageprogramm der National Security Agency (NSA), das selbst vor EU-Institutionen und befreundeten Regierungen nicht haltmacht. Im nachhinein klingt wie Hohn, was US-Außenministerin Hillary Clinton im Februar 2010 anläßlich der Münchner Sicherheitskonferenz verkündete: „Wir werden unseren Grundsätzen treu bleiben. Der erste dieser Grundsätze: Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität aller Staaten.“

In Wahrheit haben die USA bei der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen noch nie Skrupel gehabt, sich über völkerrechtliche Prinzipien hinwegzusetzen. Seit der Unabhängigkeit vor fast 250 Jahren verfolgen die Vereinigten Staaten unter dem Banner von „Freiheit und Demokratie“ ihre globalen Ziele, die sie zu Interessen der gesamten Menschheit erklärt haben, um in deren Namen als „unverzichtbare Nation“ (Madeleine Albright) eine angemaßte Weltmission zu betreiben.

Für viele, insbesondere Linke, sind die imperialistischen Aspekte amerikanischer Außenpolitik nichts Neues – auch nicht für jene Konservativen, denen die „transatlantische Partnerschaft“ ein geostrategisches Kalkül während des Kalten Krieges war, nie jedoch eine Herzensangelegenheit. Als Realpolitiker wissen sie, daß Staaten keine Freunde, sondern einzig und allein Interessen haben. Diese Kritiker in der Debatte über den Ausspäh-Skandal nun des „Antiamerikanismus“ zu zeihen, ist genauso verlogen und demagogisch wie die Denunzierung all jener als „Antisemiten“, die Israels völkerrechtswidrige Siedlungspolitik verurteilen.

Wer in Deutschland, wie die meisten Politiker und Journalisten, die Reeducation verinnerlicht hat, muß angesichts der Enthüllungen durch Wikileaks und Edward Snowden aus allen Wolken gefallen sein. In erster Linie trifft es auf jene Linksliberalen zu, die mit Jürgen Habermas jenseits des Atlantiks ihr wahres Mekka sehen, mit dessen Hilfe, so ihre Hoffnung, eines Tages die Überwindung der Nationalstaaten und deren Aufgehen in einer „demokratischen Weltgesellschaft der Freien und Gleichen“ gelingen werde.

Und in der Tat dauerte es einige Zeit, ehe sich die Düpierten aus der Schockstarre gelöst hatten. Doch dann waren sie um so schneller mit einer Erklärung für das ihnen bislang Unvorstellbare zur Hand: Der Anschlag vom 11. September 2001 sei der Grund für das ins Unermeßliche gesteigerte Sicherheitsbedürfnis der USA. Mittlerweile, so klagte am 2. Juli Stefan Kornelius, Ressortchef Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung, nähre die Angst vor dem Terror „einen Überwachungsstaat, der alle Ideale verhöhnt, die Amerika in seinen Gründungsdokumenten und seinen Hymnen besingt“.

Sogar Zeit-Herausgeber Josef Joffe, ansonsten einer der vehementesten Apologeten amerikanischer Politik, zeigte sich höchst alarmiert: „Es verschwimmt die Grenze zwischen dem totalitären und dem ‘guten’ schützenden Staat“, konstatierte er am 11. Juli. „Der Terror triumphiert, wenn die Sicherheit zur Obsession wird.“

Wie ihre Gesinnungsgenossen irren indes beide. Ein Blick ins Archiv der eigenen Zeitung hätte Kornelius eines Besseren belehrt: Weder der 11. September noch das Internet mit seinen neuen Möglichkeiten haben zu den orwellschen Überwachungsmaßnahmen geführt, vielmehr sind sie seit langem ein Merkmal des vielgepriesenen „Landes der Freien“. Wie Herbert von Borch, seinerzeit renommierter Washington-Korrespondent der SZ, am 10. März 1975 berichtete, sind „Ungezählte geheim als aufrührerische Unruhestifter in staatlichen oder privaten Karteien registriert. (...) Die Zahl der vertraulichen Akten der Bundesregierung, in denen Informationen gestapelt sind, wird auf sechs Milliarden geschätzt, was Washington zum größten Sammler von Personal- und Sachwissen in der Welt macht. Aus einer Senatsuntersuchung ergab sich, daß 54 Bundesbehörden zusammen über 765 ‘Datenbanken’ mit 1,24 Milliarden Eintragungen über Amerikaner verfügen.“

Diese Ausspitzelung der eigenen Staatsbürger, so Herbert von Borch, habe die USA in bedenkliche Nähe polizeistaatlicher Entwicklungen geführt – wobei er das gigantische Spionageprogramm des Auslandsgeheimdienstes CIA noch unberücksichtigt ließ. Wie weit mittlerweile die Überwachung gediehen ist, enthüllte die New York Times im Juli dieses Jahres: Der gesamte Briefverkehr innerhalb der USA werde registriert, wobei jeweils Absender und Empfänger von Computern fotografiert würden – allein 2012 sei dies bei 160 Milliarden Sendungen der Fall gewesen.

Angesichts dieser Tatsachen, die allein jene überraschen können, die in ideologischer Verblendung die Augen geschlossen halten, gibt es für das Agieren der meisten Parteigänger der USA nur zwei Erklärungen: Entweder haben sie stets um jene dunklen Seiten gewußt und setzen sich mit Heuchelei und Zynismus darüber hinweg, oder sie haben gutgläubig die schönen Parolen von „Freiheit und Demokratie“ für bare Münze genommen. Zur zweiten Kategorie gehört offensichtlich Kornelius, der noch immer auf den Export des westlichen Modells setzt, „denn die Demokratie ist der Feind der unkontrollierten Macht, der Mauschelei“ (SZ, 6./7. Juli).

Im Gegensatz zu Stefan Kornelius macht sich sein Redaktionskollege Thomas Steinfeld hinsichtlich des Demokratie-Projekts schon seit längerem keine Illusionen. Der Feuilleton-Chef der Süddeutschen hatte bereits 2010 während der ersten Sarrazin-Debatte den Begriff „westliche Werte“ in distanzierende Anführungszeichen gesetzt. Im NSA-Fall bezog sich Steinfeld am 5. Juli in einer klugen Analyse auf den Bremer Politologen Philip Manow, der alle Mutmaßungen über die historischen Ursprünge des demokratischen Staates als Erzählungen „aus dem Nirgendwo“ charakterisiert, weil sie stets voraussetzten, was doch überhaupt erst ihr Resultat sein könne: „eine bereits konstituierte Wir-Gesellschaft, die auch die zentrale Frage, wer dazugehört und wer nicht, bleibend gelöst hat“.

Aufgrund der nun offenbar gewordenen Ausspäh- und Überwachungsaktionen durch demokratische Staaten hält Steinfeld jene Idee von der „Wir-Gemeinschaft“ für noch „seltsamer“, als sie schon angesichts ihrer Gründungsmythen wirke, denn: „Wer wollte angesichts einer universalen Kontrolle selbst des privaten E-Mail-Verkehrs noch das Ideal des mündigen Bürgers und seiner Teilhabe am demokratischen Staat beschwören? Ein Staat, der solches tut, verzichtet auf die entsprechenden Rücksichten. Er versteht sich offenbar so sehr als souveränes Subjekt der Macht, daß er es für selbstverständlich hält, die Gesellschaft komplett unter Beobachtung zu stellen – und sie also wie einen potentiellen Feind zu behandeln.“

Staaten, so Steinfeld, seien nun einmal Konkurrenten, selbst wenn sie „befreundet“ sind, und mißtrauten sich grundsätzlich. Daraus zieht er den unsentimentalen Schluß: „Die Vereinigten Staaten respektieren die Souveränität anderer Nationen nicht, das stimmt. Aber warum sollten sie das tun, da sie doch der mächtigste Staat überhaupt sind? Und andere, nicht ganz so mächtige Staaten, die im Verbund mit den Vereinigten Staaten agieren, tun es ihnen gleich.“

Wohl noch nie ist in einer linksliberalen Zeitung derart ehrlich und illusionslos ausgesprochen worden, was sich in Wahrheit hinter der demokratischen Fassade und den schönen Wortgirlanden von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit verbirgt: der nackte Machtanspruch des Staates als des eigentlichen Souveräns, wie ihn Thomas Hobbes schon 1651 beschrieben hat. Jeder Staat – „keineswegs nur der chinesische“ –, klärt Steinfeld sein linksliberales Publikum auf, wolle wissen, wie es um die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Konkurrenz stehe, wie mit dem technischen Fortschritt, wie mit den Produktionsanlagen. „Und schließlich“, so fährt er fort, „gilt die Neugier auch den Bürgern, den eigenen wie denen anderer Staaten. Denn so sehen es die Vereinigten Staaten: Gegner sind zu identifizieren, gleich welcher Art sie sind. Eine solche Identifikation, wenn man sie denn erreichen könnte, aus Rücksicht auf Demokratie und Menschenrechte zu unterlassen, erscheint ihnen deshalb gar als Verrat.“

Hiermit hat Steinfeld, sicher ungewollt, einmal mehr den Staatsrechtler Carl Schmitt bestätigt. Der Gottseibeiuns aller Linken und Liberalen hatte 1932 in seiner Schrift „Der Begriff des Politischen“ darauf hingewiesen, daß in jedem Staat die „Unterscheidung von Freund und Feind“ das wesentliche Kriterium ist, auf das sich alle politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen; nach außen kann diese Unterscheidung bis hin zum Krieg eskalieren, im Inneren zum Bürgerkrieg. Erst eine Welt, in der die Möglichkeit eines solchen Kampfes restlos verschwunden ist, mithin ein endgültig pazifizierter Erdball, wäre Schmitt zufolge eine Welt ohne Unterscheidung von Freund und Feind, infolgedessen eine Welt auch ohne Politik. Diese Vision, quasi das „Ende der Geschichte“ im Sinne von Francis Fukuyama, bleibt somit Utopie, solange nicht in allen Staaten die von Steinfeld zitierte „Wir-Gesellschaft“ die Frage, wer dazugehört und wer nicht, dauerhaft gelöst hat. Realistischerweise kann man davon ausgehen, daß sich ein derartiger paradieshafter Zustand wohl niemals wird herstellen lassen.

In Deutschland jedoch wird versucht, Konflikte durch opportunistisches Konsensstreben und Verleugnung alles Ungleichen zu entpolitisieren und eine Scheinhomogenisierung der Gesellschaft in Szene zu setzen. Statt Probleme offen zu benennen und in einem echten freien Diskurs auszutragen, werden sie beschwiegen, schöngeredet und/oder mit immer neuen Mitteln aus dem Sozialetat scheinbar befriedet. Was als „soft power“ gerühmt wird, ist in Wahrheit das Resultat von Konfliktscheu und Entscheidungsschwäche – nach innen wie nach außen.

Die These, angesichts der Weltmächte USA und China könne ein Staat wie Deutschland nur im europäisch-atlantischen Verbund bestehen, ist lediglich eine ideologische Behauptung. Japan, Südkorea und selbst die kleine Schweiz, die kürzlich ein Freihandelsabkommen mit Peking geschlossen hat, beweisen, daß es auch weitgehend allein geht. Daß die Einführung des Euro ein katastrophaler Fehler war, weil sie Deutschlands Finanzkraft ruiniert und seine Souveränität untergräbt, zeigt sich mit jedem „Rettungsschirm“ deutlicher. Mit einem Kurswechsel ist jedoch nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Das politische Personal, dem nationale Interessen kaum etwas gelten, rüstet statt dessen die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee um, um sie in aller Welt für die Verteidigung und Verbreitung der „westlichen Werte“ einsetzen zu können.

Derartige Träume von einer „besseren Welt“ vermag Alexander Kissler, ehemaliger Redakteur der SZ, nicht zu teilen. Die Deutschen träumten gerne von einer Welt, so Kissler im Politischen Feuilleton des Deutschlandradio (4. Juli), „in der alle Menschen den Frieden lieben, geradeso wie sie, und den Runden Tisch und die Gleichstellung der Geschlechter und den Klimaschutz und natürlich die Privatisierung der Religion. Die Welt aber, sie ist nicht so. Der Sonderweg heißt Deutschland.“

 

Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die politische Verleugnung des Ungleichen („Wir und Nicht-Wir“, JF 8/13).

Foto: Yottabytes an Speicherkapazitäten für das Absaugen gigantischer Datenmengen bei Freund und Feind: Kein Respekt vor der Souveränität anderer Staaten

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