© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Von der Freiheit des Gelehrtendaseins
Verfechter wertfreien Entscheidungsdenkens: Am 17. August hätte der deutsch-griechische Philosoph Panajotis Kondylis seinen 70. Geburtstag gefeiert
Felix Dirsch

Von reichen Griechen war in letzter Zeit häufiger die Rede. Die meisten von ihnen brachten ihr (fast immer unversteuertes) Geld beizeiten ins Ausland, wenn sie nicht selbst schon lange umgezogen waren. So verschärften sie die Krise des eigenen Landes nicht unbeträchtlich.

Mit dieser Finanzaristokratie verband Panajotis Kondylis die monetäre Unabhängigkeit und die Verbindung ins westliche Ausland. Schon früh verließ er, dem man in jungen Jahren ein marxistisches Engagement nachsagte, seine Heimat. Es zog Kondylis zum Studium in die Bundesrepublik. In Heidelberg besuchte er unter anderem Lehrveranstaltungen bei dem Sozialhistoriker Werner Conze. Seine Dissertation hat er bei dem nachmals in München lehrenden Philosophen Dieter Henrich verfaßt. Der Titel der Arbeit lautet: „Die Entstehung der Dialektik“ – letztlich ein Lebensthema, wenn man die zahllosen geistesgeschichtlichen Verästelungen des idealistischen Denkens reflektiert. Es war dem Promovenden wie auf den Leib geschneidert, verstand er es doch schon in jungen Jahren, sich maßgebliche Quellen mit Bienenfleiß anzueignen und konzentriert niederzuschreiben.

Kondylis nutzte seine Freiheiten in einem sehr ertragreichen Dasein als Privatgelehrter. Die eine Hälfte des Jahres lebte der Unternehmersohn in seiner Heimat, die andere Hälfte in Deutschland. Berufungen auf Lehrstühle hat er stets abgelehnt. Ihm war klar, welcher Zeitaufwand allein für die Verwaltung im universitären Bereich nötig ist. Auch Einladungen zu Tagungen nahm er nur selten an. Hielt er sich in Heidelberg auf, war er der Fama nach der erste, der die Universitätsbibliothek bei ihrer Öffnung betrat und der letzte, der sie abends verließ.

Wenige Jahre nach der Publikation seiner Doktorarbeit 1978 legte Kondylis eine umfangreiche Studie über die „Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus“ vor, die dieses enorm vielfältige Terrain vermißt. Sie arbeitet den späteren Verlauf dieser geistesgeschichtlichen Epoche als Reaktion auf das nüchterne Verstandesdenken der frühen Zeit heraus, das vor allem Descartes grundlegte. Die Aufwertung der Sinnlichkeit, ja sogar der nihilistischen Strömungen, wird so in ihrem historischen Zusammenhang verdeutlicht. Ungewöhnlich war bereits in dieser Abhandlung die stupende Kenntnis der Primär- und Sekundärliteratur.

Lebhafte Debatten in der Fachwelt rief sein 1986 erschienenes Buch über den „Konservativismus“ hervor, wie die ältere Schreibweise lautet. Überraschend war die paradox anmutende Auffassung, der Konservatismus sei bereits tot gewesen, als er nach 1789 die weltgeschichtliche Bühne betrat. Mit dem Untergang der alten Ständegesellschaft sei er unwiederbringlich verschwunden. Als authentisch-konservativ in diesem Sinne können folgerichtig nur der hochadelige Offizier und Politiker Friedrich August Ludwig von der Marwitz und die Gebrüder von Gerlach, hochorthodoxe Mitglieder der Kamarilla um König Friedrich Wilhelm IV., gelten, nicht mehr jedoch Otto von Bismarck, der „weiße Revolutionär“, der sich von seinen Förderern früh distanzierte.

Danach kamen noch etliche beachtete Schriften des produktiven Philosophen auf den Markt. Hervorzuheben sind neben der materialreichen Darstellung über die neuzeitliche Metaphysikkritik die Untersuchungen „Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg“ und „Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“. Letztere, die Geistreiches über die Ablösung des bürgerlichen Liberalismus durch die Wucht des massendemokratischen Egalitarismus um 1900 enthält, ist ein echtes Kondylis-Produkt: 300 Seiten, die nur wenige Punkte und Kommata enthalten, keine Anmerkungen, kaum Hinweise auf Personen, Organisationen und Institutionen, auf einem Abstraktionsniveau verfaßt, das seinesgleichen sucht. Anfang der 1990er Jahre machte sich der Gelehrte einen Namen als „Anti-Fukuyama“ (Armin Mohler), der die Dominanz des Liberalismus als Übergangsphänomen herausarbeitete und jene Ideologien entlarvte, die sich um den Globalismus ranken.

Welches Vorgehen charakterisiert den Buchautor? Seine Methode ist das wertfreie Entscheidungsdenken. In der Tat ist der Dezisionismus eines Carl Schmitt mit politischen Ambitionen angereichert. Der Erbe des Staatsrechtslehrers will hingegen diese Richtung der politischen Theorie rein beschreibend darlegen und Polemik vermeiden. Jedes Denken setzt demnach eine Entscheidung voraus. Das eine Element wird Teil des Erkenntnissystems, ein anderes notwendigerweise ausgeschieden. Ohne Entscheidung demnach keine Erkenntnis. Kondylis hat stets das Konkrete als Objekt der Reflexion stark gemacht. Universalistische Rhetorik, etwa nur deklamatorische Menschenrechtsappelle, blieb ihm immer fremd. Folgerichtig war er im (von normativen Postulaten überfrachteten) Politikwissenschaftsbetrieb der Bundesrepublik ein Außenseiter, vergleichbar seinem Heidelberger Mentor Hans-Joachim Arndt.

In der Blütezeit seines Schaffens starb Kondylis 1998 bei einem Aufenthalt in Griechenland an den Folgen einer Routineoperation. Zwar kümmert sich ein Freundeskreis um den äußerst umfangreichen Nachlaß; jedoch scheinen die Mitglieder von der Materialfülle des handschriftlich Aufgezeichneten überfordert. Bisher ist nur der erste von drei geplanten Bänden seiner voluminösen Sozialontologie unter dem Titel „Das Politische und der Mensch“ (postum 1999) erschienen. 2007 gab Falk Horst einen Sammelband, der in Kondylis’ Œuvre einführen will, mit dem freilich wenig aussagekräftigen Titel „Aufklärer ohne Mission“ heraus.

Daß es um Kondylis fünfzehn Jahre nach seinem Tod ruhig geworden ist, kann kaum verwundern. In Zeiten abnehmenden Bildungsniveaus erscheinen seine aus dem vollen schöpfenden Werke als Zumutung, deren Lektüre überfordert. Um so mehr wird derjenige, der diesem Trend entgegensteuern will, reich belohnt. Kondylis Vermächtnis ist faszinierend. Es liegt an den Nachgeborenen, dieses adäquat zu pflegen.

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