© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Von der Vierzehnjährigen bis zur Großmutter
Literatur einer Menschenkennerin: Eva Menasses Roman „Quasikristalle“ zeugt von großer Erzähllust
Ellen Kositza

Die Vereinnahmung von Schriftstellern zu realpolitischen Zwecken, oder schlimmer noch: die freiwillige Hingabe von Literaten an Parteien hat gerade in Deutschland eine ungute Tradition. Die Kunst und mithin ihr Schöpfer sollte anderen Grundsätzen verpflichtet sein als einer Doktrin oder einem wählbaren Programm. Dies gilt selbst, wenn man zugestehen mag, daß das Parteienspektrum der Bundesrepublik kaum Vergleiche mit den mächtigen Apparaten der SED und der NSDAP zuläßt. Die Frage nach dem Ob und Wie eines parteipolitischen Engagements durch Künstler war schon vor fünfzig Jahren umstritten, als Schriftsteller wie Heinrich Böll, Günter Grass und Siegfried Lenz offen für die SPD eintraten.

Als die Publizistin und damalige literarische Debütantin Eva Menasse gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Romancier Michael Kumpfmüller, im Wahlkampf 2005 nicht nur zugunsten der SPD zur Feder griff, sondern leidenschaftlich um das Engagement von Kollegen warb, trug ihr das heftige Kritik ein. Die Menasse fand die Schelte „grotesk“: „ Ich glaube, mein Herz ist genausoviel links wie konservativ“, zitierte die FAZ sie, „die aktuelle Lage ist längst so, daß man mit rechts und links nichts ausrichten kann.“ Sie kämen eigentlich „von rechts zur SPD“, erklärte die Schriftstellerin 2009.

Im jüngst erschienenen Glückwunschkompendium „Durchgefressen und durchgehauen“ gratuliert Eva Menasse (im Verein mit Kollegen wie Helmut Krausser und Ingo Schulze) der SPD zum 150. Gründungstag. Ursula März befand in der Zeit, daß Eva Menasse für Steinbrücks Wahlkampf „das reine Gold wäre. Sie ist politisch bestens informiert, schlagfertig, meinungsstark, sie ist Mitte Vierzig und weiblichen Geschlechts. Außerdem hat sie gerade einen Bestseller gefeiert, der bei Frauen mittleren und jüngeren Alters, einer Wählerschicht, die mit Peer Steinbrück angeblich fremdelt, großen Anklang fand.“

Für jenen Roman wurde der Schriftstellerin gerade der mit 20.000 Euro dotierte Heinrich-Böll-Preis zugesprochen. Zudem vermachte ihr die rheinland-pfälzische Landeszentrale für politische Bildung den Gerty-Spies-Literaturpreis, benannt nach einer Kollegin, die den Holocaust überlebt hat. Vor ihrer Dichterkarriere war Eva Menasse journalistisch tätig. Sie verfolgte für die FAZ den Prozeß David Irvings gegen die Historikerin Deborah Lipstadt, daraus resultierte ihr Sachbuch „Der Holocaust vor Gericht“ (2000).

Mit ihren jüdischen Wurzeln flirtete die Halbschwester von Robert Menasse und Tochter des einstigen österreichischen Fußballnationalspielers Hans Menasse in ihrem Debütroman „Vienna“ (2005). Wie schreibt es sich so, als SPD-Literatin? Vor allem, wie liest es sich? Gut! Über weite Strecken gar hervorragend. Menasses aktueller Roman „Quasikristalle“ erzählt in dreizehn episodischen Kapiteln das Leben der Xane Molin von der Pubertät bis zum Großmutterdasein, und zwar aus jeweils unterschiedlicher Perspektive. Mal tritt Xane als Freundin der jeweiligen Hauptfigur auf, mal als Mieterin, als flüchtige Bekannte, als Mutter.

Der Romantitel spielt auf jene Kristalle an, die anders als ihre symmetrischen Brüder in ungeordneter Struktur vorliegen. Vor zwei Jahren wurde der Nobelpreis für diese Entdeckung vergeben. Xane also, diese facettenreiche Frau, stammt wie Menasse aus Österreich, zieht später nach Berlin, wie die Menasse, wird einigermaßen prominent, heiratet einen älteren Mann, hat zwei Stiefkinder, einen eigenen Sohn; stets laufen Menasses biographische Parallelen mit. Xane hat sogar schiefe Zähne, genau wie die (im übrigen äußerst attraktive) Menasse. Die letzten (und schwächeren) Kapitel spielen in der Zukunft.

Das mit sechzig Seiten opulenteste, funkelndste und in jeder Hinsicht bemerkenswerteste zweite Kapitel hat Professor Bernays zum Protagonisten, einen Mittvierziger in ungeordneten Lebensverhältnissen. Bernays ist Xanes Auschwitz-Flirt. Er ist der Assistent des prominenten Holocaust-Experten Rozmburk, dessen „Art Patenkind“ Xane wiederum ist. Bernays leitet seit Jahren mit Rozmburk Exkursionsseminare an die Stätte des Grauens. Xane hat sich erst jetzt – Rozmburk ist erkrankt – angeschlossen, weil sie dem emotionalen, einige Fakten vernachlässigenden Zugang Rozmburks mißtraute.

Der zum Zynismus neigende Bernays scheint ihr der richtige Führer durch Auschwitz zu sein. Ja, „Führer“! Bernays’ Überzeugung ist, daß man den Leuten gerade hier sagen müsse, „wo es langging, in jeder, auch der innerlichsten Hinsicht“. Bernays hat sich für seine Führungen eine Arbeitskleidung zugelegt, seinen „Auschwitz-Anzug“ aus einem Outdoor-Spezialgeschäft. Er reist nicht mit einem klimatisierten, musikberieselten Reisebus, sondern per unkomfortablem polnischem Nachtzug.

Diese Erfahrung im Verein mit der schlechten Straßenbeleuchtung, den ärmlichen Auschwitzer Bauten und dem Fußmarsch zur bescheidenen Herberge soll seine heterogene Auschwitzbesichtigungstruppe einstimmen. Darunter sind neben Xane ein paar Neunmalkluge, eine clowneske Akademikerin, deren Pferdegesicht Bernays mißfällt, eine „Kampflesbe“ mit „Schuhen, die an die SS erinnern“ und ein kommunistischer „Betroffenheitstourist“, der vor Entsetzen pausenlos den Kopf schüttelt: „Kann ein Mensch stundenlang den Kopf schütteln, ohne Schaden zu nehmen?“

Bernays hat ungezählte Besuchergruppen durch Auschwitz geführt, Israelis mit ihrem „selbstgerechten Zorn“, „tränenseligste Deutsche“, die sich „in die wechselnden Moden der Gedenkpropaganda verhedderten“. Deren problematische Sicht auf den Holocaust sei jedoch nichts gegen all die deutsch-jüdischen Ehepaare, deren „Hitler-überwindendes Glück“ nur funktioniere, „weil sich der deutsche Partner in eine lebenslange Büßerstellung begab!“

Bernays und Xane tauschen Küßchen und umarmen sich, während am Schreckensort „Entzückungsschreie“ gellen. Da wird nämlich bekannt, daß Bernays persönlich bekannt ist mit einer Forscherin, besser einer „Lobbyistin“, die auf das „leicht Vermarktbare“ am Holocaust spezialisiert ist, eine Expertin für Häftlingsorchester. Und ausgerechnet die „Kampflesbe“ spielt Klarinette! Menasse alias Bernays: „So fand ein jeder seine persönliche Holocaust-Teilmenge.“

Evas Menasses Roman ist keineswegs nur deshalb beeindruckend und lesenswert, weil er eine Gedenkstättenexkursion mit unerhört schräger Kante anschneidet. Das darauffolgende Kapitel, Xane als rebellische Filmemacherin aus der Sicht eines bürgerlichen Vermieter-Ehepaars darstellend, atmet geradezu Mosebachschen Duktus. In einem weiteren Kapitel fühlt man sich an Christian Krachts Blick erinnert. Menasse ist eine großartige Menschenkennerin, ihre Erzähllust und ihre Gabe zur Pointierung sind auf jeder Seite spürbar.

Warum aber SPD? 2005 sagte sie, sie wolle einfach „nicht von der CDU/CSU regiert“ werden. Was so unplausibel nicht klingt.

Eva Menasse: Quasikristalle. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, gebunden, 432 Seiten, gebunden, 19,99 Euro

Foto: 3D-Projektion zum Verständnis der Struktur eines Quasikristalls: Die einzelnen Bausteine sind nicht immer exakt gleich zueinander angeordnet, trotzdem bilden sie im globalen Maßstab ein geordnetes Muster

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