© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/13 / 02. August 2013

Weltoffenheit und Völkerverständigung
Zwei ehemalige „Erbfeinde“ im Geographieunterricht
Sönke Wichert

Mindestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts fiel der Vergegenwärtigung des Vergangenen in den Schulen aller Kulturstaaten die Aufgabe zu, nationales Bewußtsein zu bilden. Unterstützung bekamen die Geschichtslehrer dabei von jenen Kollegen, die an den erst nach 1870 universitär etablierten Lehrstühlen für Geographie ihre Facultas docendi für „Erdkunde“ erwarben. Studienräte für Geschichte und Erdkunde vermittelten also Generationen von Pennälern eine beneidenswert übersichtliche Welt mit festen Grenzen und ethnisch homogenen „Volkskörpern“.

Vertraut man der Bestandsaufnahme Alexandra Budkes, Kölner Professorin für Geographie mit den Forschungsschwerpunkten Didaktik, interkulturelles Lernen und Migration, ist von solcher Weltbildformatierung an bundesdeutschen Schulen rein gar nichts übriggeblieben (Geographische Rundschau, 5/2013). In ihrem Vergleich historischer wie gängiger geographischer Schulbücher, die nach 1945 in der Bundesrepublik, DDR und Frankreich produziert wurden, fanden sich jedenfalls Spurenelemente nationaler, freilich kapitalismuskritisch bestens verpackter „Stereotype“ höchstens noch in Erzeugnissen des mitteldeutschen „Arbeiter- und Bauernstaates“.

Konrad Adenauers Bonner Republik hingegen habe, als Resultat der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, beinhart auf „Weltoffenheit und Völkerverständigung“ umgeschaltet. Mit der „früheren Feindbildproduktion“, die sich in den 1930ern gegen das mit demographischen Alarmmeldungen konfrontierte, sich in „Zuwanderung“ flüchtende und damit aus deutscher Sicht rasant „vernegernde“ Frankreich richtete, sei in westdeutschen Kultusministerrunden abrupt gebrochen worden.

Das Schulbuch durfte nicht länger Medium „zur Vermittlung von negativen Einstellungen gegenüber Frankreich“ sein. Denn fortan sollte der Unterricht Sympathien für den „liebenswerten Nachbarn“ wecken. Der freilich als Franzose bis heute jede Kontur verloren hat, da Differenzen begründende deutsche wie französische „Nationalcharaktere“ ein absolutes Tabu für Schulbuchautoren sind. Die Betonung kultureller Unterschiede ist allenfalls in politisch harmlosen Regionen gestattet. Wie in der aus heutiger Sicht dummdreisten Euro-Werbung, als der ARD-Gimpel Ulrich Wickert frohlockte, für sein Croissant in Pariser Cafés bald keine Deutsche Mark mehr umtauschen zu müssen, so reduziert das geographische Schulbuch nationale Eigenheiten heute radikal auf „Backtraditionen“, Speisekarten oder exotisch anmutende Folklore.

Selbst die Präsentation des alten „Erbfeindes“ in seinem Lebensraum, die herkömmlich physisch-geographische Beschreibung Frankreichs zwischen der Kanalküste und den Gestaden des Mittelmeeres, mutet den Schülern eine zu viel Vergleiche mit Deutschland evozierende Prägnanz zu und verschwindet daher genauso wie die humangeographische Perspektive. In deutschen Geographieschulbüchern, so lautet Budkes Befund, suche man daher vergeblich nach vertrauten „länderkundlichen Darstellungen“.

In der Regel werde „Frankreich“ didaktisch via Europa behandelt. In siebzig Prozent der Schulbuchtexte finde man die Erben der Gallier nur in den Europakapiteln. Dabei löse sich dann die nationale Eigenart in kosmopolitische Beliebigkeit auf, wenn die europäischen Staaten, darunter beiläufig auch Frankreich, im kontinentalen Nebel grenzüberschreitender Problemfelder wie sozialer Ungleichheit, Stromverbrauch, Migration oder Bevölkerungsentwicklung verschwinden.

Kein Wunder, daß sich in deutschen Schulbüchern immer deutlicher der Versuch erkennen lassen, „kulturelle Gemeinsamkeiten ‘der Europäer’ zu identifizieren“. Denn ganz offensichtlich strebe man in der Berliner Republik an, „daß die Schüler den Erfolg der europäischen Kooperationen und deren Bedeutung erkennen und sich mit der EU identifizieren“. Deshalb würden Deutschland und Frankreich nicht mehr als eigenständige Staaten behandelt, wie dies in der alten geographischen Länderkunde allemal bis 1945 und in moderater Fassung sogar noch bis in die 1960er Jahre üblich war. Zentral sei derzeit allein die Beschreibung deutsch-französischer Zusammenarbeit, „bei der sich teilweise die Ländergrenzen auflösen“.

Die französischen Schulbücher stehen unter diesem deutschem Druck nicht an, der „Partner“-Rhetorik Tribut zu zollen. So illustriert bei ihnen die als überstaatlich konstruierte „Rheinregion“ die vorgebliche Bedeutungslosigkeit politischer Grenzen. Auch wolle man den rechtsrheinischen Kosmopolitismus hie und da noch übertrumpfen, wenn etwa der bundesdeutsche Föderalismus als Hemmnis für „Mobilität und Globalisierung“ angeprangert werde. Und sogar ein Reservat nationaler Eigenständigkeit behaupten die Pariser Eliten: Während man Deutschland nun resigniert als Vormacht Mitteleuropas akzeptiere, wolle man die französischen Schüler wenigstens mit der transeuropäischen Identität der Grande Nation als eines Hegemons und Anwalts des mediterranen, Nordafrika umfassenden Raumes impfen.

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