© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/13 / 02. August 2013

Nur ein lieber Onkel mit Spitzbart
DDR-Geschichtsklitterung: Egon Krenz versucht sich an einer Reinwaschung Walter Ulbrichts
Jörg B. Bilke

Das Buch ist schwer wie eine Bibel, und es verkündet auch eine frohe Botschaft, die da lautet: Walter Ulbricht war ein guter Mensch und ein großer Staatsmann! Wer anders denkt oder gegenteilige Erfahrungen gemacht hat, der wird von Egon Krenz auf 608 Seiten darüber belehrt, daß er sein antiquiertes Geschichtsbild schleunigst revidieren sollte.

Mit einem schrecklichen Vorwort, von dem jedes Komma widerlegt werden kann, versucht Egon Krenz, 1937 als Sohn eines Schneiders in Kolberg/Pommern geboren und heute als Rentner in Dierhagen an der Ostsee lebend, die Leser auf seine Sicht der DDR-Geschichte und des segensreichen Wirkens des Genossen „Wulbricht“ (Herbert Wehner) einzustimmen. Im Auftrag des Verlags, eines florierenden Unternehmens der DDR-Nostalgie-Industrie, habe er, so erfährt man, zum 120. Geburtstag Walter Ulbrichts am 30. Juni und zum 40. Todestag am 1. August mit „Weggefährten“ gesprochen, „die ihn noch aus eigenem Erleben kennen“.

Die DDR, so liest man im ersten Absatz, war „auf jeden Fall anders“, als sie heute „von bestimmten Behörden“ im vereinigten Deutschland gezeichnet wird, die „beauftragt sind“, sie „als ein großes Gefängnis darzustellen“. Soll man diesen wirklichkeitsblinden Unsinn, den der einstige SED-Generalsekretär, der im Herbst 1989 nur knapp sieben Wochen im Amt war, hier als Geschichtsbild anbietet, überhaupt zur Kenntnis nehmen? Weiterhin wird dem ahnungslosen Leser, der die vierzig DDR-Jahre nicht miterlebt hat, weisgemacht, daß Walter Ulbricht, der Hunderttausende seiner Untertanen zur Flucht nach West-Berlin getrieben hat und in der Nacht zum 13. August 1961 die Berliner Mauer bauen ließ, „überzeugter Gegner einer Teilung Deutschlands“ gewesen sei. Der nachfolgende Satz: „Er wollte immer das ganze Deutschland“, ist verräterisch, übersetzt heißt das: die Übertragung der DDR-Verhältnisse auf die westdeutsche Demokratie, also ein sozialistisches Gesamtdeutschland nach Stalinschem Muster. Egon Krenz drückt das feiner aus: „Antifaschistisch, demokratisch und sozial gerecht“ sollte es sein.

Weiterhin wird, bar jeder Geschichtskenntnis, behauptet, die Sowjetmacht hätte es 1945 abgelehnt, „Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen“. Es war genau umgekehrt, wie man in Wolfgang Leonhards Buch „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ von 1955 nachlesen kann. Und schließlich wird noch im Jammerton der Vorwurf gegen die Berliner Republik erhoben, die siebzig „Weggefährten“ Walter Ulbrichts, die hier befragt wurden, litten „bettlägerig, aber ungebrochen“ unter der staatlich verordneten „Strafrente“ und könnten nicht einmal „Pflege- und Seniorenheim“ bezahlen.

Von „bettlägerigen Weggefährten“ wird man nur in beschränktem Umfang sprechen können. Zumindest der linke Polemiker Diether Dehm aus Frankfurt am Main, der, was inzwischen gerichtsnotorisch ist, 1971/78 der „Staatssicherheit“ als „inoffizieller Mitarbeiter“ gedient hat und trotzdem seit 2005 für Die Linke im Bundestag sitzt, ist keiner. Er hat Walter Ulbricht nie gesehen, wettert gegen die „Schreibsöldner des Kapitals“ und argumentiert auch sonst auf niedrigem Niveau. Auch die drei sowjetrussischen „Freunde“, die hier schreiben, darunter der 1926 geborene Diplomat Valentin Falin, der als Mitglied der „Sowjetischen Kontrollkommission“ 1950/51 in OstBerlin lebte, gehören zumindest nicht in die stattliche Reihe der dahinsiechenden „Weggefährten“.

Sie waren, mit Verlaub, die Befehlsgeber der SED-Führung, deren Anordnungen sich Walter Ulbricht kaum entziehen konnte. Auch westdeutsche Kommunisten, wie der 1929 geborene DKP-Vorsitzende Herbert Mies, waren keine „Weggefährten“. Sie hatten sich, auch wenn nach außen der Schein gewahrt wurde, den Befehlen des SED-Politbüros unterzuordnen, sonst wären ihnen die millionenschweren Zuwendungen aus Ost-Berlin gestrichen worden.

So bleiben lediglich Dutzende von Aufsteigern aus der „neuen Klasse“ (Milovan Djilas) der Berufsrevolutionäre, die neben und mit Walter Ulbricht von der Siegermacht Sowjetunion mit hohen Machtbefugnissen ausgestattet wurden. Sie waren die Nutznießer des Systems, die unerhörte Privilegien genossen, wofür sie mit bedingungsloser Unterwerfung zu zahlen hatten.

Egon Krenz hat sein umfangreiches Buch in 15 Abschnitte aufgegliedert, die je einem Sektor Ulbrichtscher Politik zugeordnet sind. Bei den Überschriften freilich weiß der Leser oft nicht, was gemeint ist. So steht „Wurzeln“ für die Biographie vor 1945, das harmlose Wort „Landschaftsgestaltung“ für die unerbittliche Landwirtschaftspolitik, mit „Kunststück“ ist die „Kulturpolitik“ gemeint, mit „Weltläufigkeit“ die Außenpolitik und mit „Kreuzgang“ das schwierige Verhältnis zur evangelischen Kirche.

Warum der Herausgeber so verfährt, ist unersichtlich. Vor allen Interviews oder selbstverfaßten Beiträgen stehen die Lebensdaten der Autoren in Stichworten, wobei sämtliche Stasi-Verstrickungen getilgt und Berufsangaben oft gefälscht sind: Wer wie Siegfried Prokop einst nur DDR-Geschichte gelehrt hat, darf sich heute „Professor für Zeitgeschichte“ nennen. Wer früher wie Alfred Kosing den „Dialektischen Materialismus“ vertreten hat, firmiert heute als „Philosoph“. Das Buch ist durchzogen von Bildern, die Walter Ulbricht in allen Lebenslagen zeigen: im Staatsrat, in der Bauakademie, beim Tanzen, bei der Gymnastik, mit Angela Davis, mit Jungaktivisten, mit Jungpionieren, mit Mansfeld-Kumpels unter Tage, auf Dampferfahrt, auf der Leipziger Messe.

Aufschlußreich ist nicht, wer alles in diesem Buch vertreten ist, sondern wer nicht aufgenommen wurde und welche Ereignisse nicht genannt werden. So kommt, außer beim Regisseur Man-fred Wekwerth, der Aufstand des 17. Juni 1953, bei dem Walter Ulbricht eine klägliche Rolle spielte, überhaupt nicht vor. Da wäre der selbsternannte „Arbeiterführer“ von den aufbegehrenden Arbeitern fast gestürzt worden. Und Beiträge von geflohenen Dissidenten wie Wolfgang Leonhard, Gerhard Zwerenz oder Wolf Biermann waren wohl nicht zu erwarten gewesen. Erhellendes aus seinen Moskauer Jahren, wo viele andere KPD-Genossen während der Säuberungen von Stalin ermordet wurden, hätte zumindest einen Neuigkeitswert gehabt.Auch Wortmeldungen aus Ulbrichts Zeit an der Spitze des Zentralkomitees der SED bis zu seiner Entmachtung 1971 wären interessant gewesen. Was hätten wohl SED-Gegenspieler wie Paul Merker geschrieben, den Walter Ulbricht 1952 für acht Jahre ins Zuchthaus werfen ließ?

Berühmte Namen fehlen freilich nicht: DDR-Radsportlegende Täve Schur ist dabei, von Elfriede Leymann, Emerita für Verwaltungsrecht in Ost-Berlin, erfährt man, daß Walter Ulbricht einen älteren Bruder Erich hatte, der nach New York ausgewandert war, und eine Schwester Hildegard in Westdeutschland. Vater Ernst Ulbricht aus dem Leipziger „Nauendörfchen“ war Schneidermeister, also Kleinbürger, nichts da von „revolutionärer Arbeiterklasse“.

Selbstverständlich darf auch die 1927 in Halle geborene Ex-Ministerin Margot Honecker nicht fehlen, die bei der DDR-Bevölkerung verhaßt war, heute aber im fernen Chile eine üppige Rente aus dem „kapitalistischen“ Deutschland bezieht und hier ihre gewohnten Plattheiten über den SED-Staat abgibt. Da ist das, was der Schriftsteller Hermann Kant, auch er ein Nutznießer des Systems, zu sagen hat, weit bewegender: Er mochte Walter Ulbricht nicht und begründet das auf vier Seiten.

Egon Krenz (Hrsg.): Walter Ulbricht. Zeitzeugen erinnern sich. Verlag „Das Neue Berlin“, Berlin 2013, gebunden, 608 Seiten, Abbildungen, 24,99 Euro

Foto: DDR-Führung und der „große Bruder“; Otto Grotewohl, A.I. Mikojan, Wilhelm Pieck, Nikita Chruschtschow, Walter Ulbricht, sowjetischer Botschafter Puschkin und Max Opitz (v.l.n.r.) im brandenburgischen Prieros 1957: „Antifaschistisch, demokratisch und sozial gerecht“

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