© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/13 / 02. August 2013

Stereotypen
Sehr hilfreich
Andreas Vonderach

Zu den Standardfloskeln linker Argumentation gehört die von den Stereotypen. Die bekommt jeder zu hören, der auf Unterschiede zwischen Völkern oder anderen Menschengruppen hinweist. Und meistens kann man dem auch nur wenig entgegensetzen.

Der Begriff des Stereotyps wurde 1922 von dem amerikanischen Journalisten Walter Lippmann (1889–1974) mit seinem Buch „Public Opinion“ („Die öffentliche Meinung“) in die Sozialpsychologie eingeführt. Lippmann verfügte als Kolumnist mehrerer großer Zeitungen selbst über außerordentlichen Einfluß auf die öffentliche Meinung Amerikas. Er gehörte zu jenen linken Intellektuellen, die sich nach 1929 um den Präsidenten Franklin D. Roosevelt scharten und eine „Neue Weltordnung“ anstrebten.

Lippmann ging von der Erfahrung der Parteilichkeit der öffentlichen Meinung aus. Die Menschen bilden sich ihre Meinung nicht aufgrund von Tatsachen, sondern von kulturell vermittelten Denkschablonen, den Stereotypen. Den Begriff „Stereotyp“ hat Lippmann dabei aus der Drucktechnik übernommen. Er meinte damit die „Bilder in unseren Köpfen“, die unsere Wahrnehmung beeinflussen. „Wir werden über die Welt bereits unterrichtet, bevor wir sie sehen. Wir stellen uns die meisten Dinge vor, bevor wir unsere Erfahrungen damit machen. Und diese vorgefaßten Meinungen beherrschen aufs stärkste den ganzen Vorgang der Wahrnehmung.“

Die Stereotype führen dazu, daß wir nur das sehen, was sie bestätigt, und das außer acht lassen, was ihnen widerspricht. Zwar hätten Stereotype auch eine ökonomische Funktion, dienten der Vereinfachung einer unüberschaubaren Wirklichkeit, seien aber grundsätzlich von Übel, weil sie zu einer voreingenommenen Verzerrung der Wirklichkeit führten, die ihr nicht gerecht werde. Sie beruhten nicht auf Erfahrungen, sondern seien willkürlich und irrational.

In den 1930er Jahren entstand so in Amerika die sozialpsychologische Vorurteilsforschung. Dabei wurde der Begriff Vorurteil gleichbedeutend mit Stereotyp verwandt. Man warf den Stereotypen und Vorurteilen vor, daß sie nicht auf eigenen Erfahrungen beruhten, daß sie dem einzelnen Angehörigen der betroffenen Gruppe nicht gerecht würden – als könnte das bei einer Aussage über eine Gruppe anders sein –, daß sie sich gegen Belehrung als resistent erwiesen und daß sie auch durch reale Begegnungen mit den Angehörigen der anderen Gruppe nicht verschwänden. Die vermeintlichen Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit führte man auf den Effekt der sich selbst erfüllenden Prophezeiung zurück, der dazu führe, daß man nur solche Informationen wahrnehme, die das bereits bestehende Vorurteil bestätigten.

Als 1933 in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, führte in Amerika die nationale Solidarisierung gegen den äußeren Feind mit seiner rassistischen Ideologie dazu, daß man erst recht jeden Gedanken an reale rassische Unterschiede verwarf. Das aufgeheizte moralische Klima war einer unvoreingenommenen wissenschaftlichen Herangehensweise wenig zuträglich. Die Vorurteilsforscher sahen sich als Beschützer bedrohter Minderheiten und Vorkämpfer einer allgemeinen Humanität. Die „Vorurteile“ durften nichts mit den wirklichen Eigenschaften der betreffenden Gruppen zu tun haben, denn sonst hieße das ja, daß die „Opfer“ selbst schuld an ihnen seien.

Daß es auch eine normale Eingenommenheit für die eigene Gruppe gibt, ohne die eine Gemeinschaft nicht bestehen kann, kam den Vorurteilsforschern nicht in den Sinn. Konsequent denunzierten sie die Selbstverständlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft als „Ethnozentrismus“. Nicht zuletzt waren und sind Stereotyp und Vorurteil polemische Begriffe. Vorurteile hat immer nur der politische Gegner, nie man selbst.

Im amerikanischen Exil entwickelten die Vertreter der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno (1903–1969) das Konzept des „autoritären Charakters“, der sich durch die unbedingte Anerkennung von Autoritäten, durch Intoleranz und seine Neigung zum Konservatismus und Faschismus auszeichne. Er entstünde durch die Sexualunterdrückung in der bürgerlichen Kleinfamilie und durch die Übermacht des autoritären Vaters. Der so geprägte Charakter identifiziere sich mit seinen Peinigern und reagiere seine Frustration an Sündenböcken ab, insbesondere an den Juden.

Um den autoritären Charakter zu messen, entwarf die Sozialwissenschaftler einen Fragebogen, die sogenannte F-Skala (Faschismus-Skala). Wer viele F-Punkte hatte, war ein autoritärer Charakter.

Mit ihrer Zielsetzung, eine Reform der Gesellschaft nicht durch eine proletarische Revolution, sondern durch die Veränderung der psychischen Grundstruktur der Menschen mittels Kontrolle der Erziehungsinstitutionen herbeizuführen, stand die Frankfurter Schule Pate für die Kulturrevolution der Achtundsechziger.

Mit der Zeit wurde aber selbst in den Kreisen der Sozialpsychologen Kritik an dem Konzept des autoritären Charakters laut. Es hatte sich gezeigt, daß nur mäßige Korrelationen zwischen dem „autoritären Charakter“ und der Diskriminierung von Minderheiten bestehen. So gab es zum Beispiel in den Südstaaten Amerikas keinen Zusammenhang zwischen der F-Skala und Vorurteilen gegenüber Schwarzen. Andere Untersuchungen zeigten, daß die deutsche Kleinfamilie nicht autoritärer war als die in anderen europäischen Ländern.

Seit Ende der fünfziger Jahre stand die Vorurteilsforschung unter dem Sig­num des Behaviorismus. Man faßte das menschliche Verhalten im Sinne des Reiz-Reaktions-Schemas auf. Positive oder negative Reaktionen führen zur Konditionierung des Verhaltens, die sich im günstigen Fall durch entgegengesetzte Konditionierung mittels Erziehung auch wieder verändern läßt.

In den siebziger Jahren verdrängte der Begriff des Stereotyps den des Vorurteils wieder weitgehend. Bis zur Gegenwart öffnete sich die Stereotypenforschung zunehmend den Erkenntnissen der Kognitionspsychologie darüber, wie es im menschlichen Denken zur Bildung von Begriffen und Stereotypen kommt. Über weite Strecken besteht die Stereotypenforschung jedoch nur in der bloßen Sammlung und Beschreibung insbesondere von ethnischen Stereotypen. So werden etwa literarische Beschreibungen von Völkern als Stereotypen „entlarvt“, was gleichzeitig als deren sachliche Widerlegung angesehen wird. An der Grundüberzeugung, daß Stereotypen keinen Informationswert besitzen, daß sie falsch, irrational und irreführend seien, änderte sich nichts.

So gehört bis zur Gegenwart für viele Stereotypenforscher die sachliche Unrichtigkeit zur Definition von Stereotypen. Zugleich behaupten sie aber auch, alle Vorstellungen über psychische Eigenschaften von Gruppen seien Stereotype. Bezeichnend sind Buchtitel wie „Erstarrtes Denken“, „Eingebildete Nationalcharaktere“ und „Der Stoff, aus dem die Dummheit ist“.

Zu einer zusätzlichen Radikalisierung führte seit den neunziger Jahren der Einfluß des postmodernen Konstruktivismus. Die Konstruktivisten glauben, daß eine objektive Erkenntnis nicht möglich ist, daß jedes Wissen subjektiv sei und erst in den Köpfen von Menschen „konstruiert“ wird. Nach dieser Vorstellung gibt es keine korrelative Beziehung zwischen den Begriffen und der Wirklichkeit. Das gilt sogar für die Wissenschaft. Auch die empirische Bestätigung einer Hypothese bedeute nicht die Erkenntnis einer objektiven Welt.

So machen sich seit den neunziger Jahren linke Geisteswissenschaftler daran, selektiv Begriffe zu „dekonstruieren“. Rassen, Völker und selbst die Geschlechter seien „Konstrukte“, „Fiktionen“ und „Erfindungen“, erdacht von den Herrschenden, um Macht über die von ihnen Beherrschten auszuüben. Es entstand eine Flut von akademischen Publikationen, die im Grunde nichts anderes tun, als die ethnische Identität der Völker in ihrer historischen Entwicklung zu beschreiben und damit als vermeintliche „Konstrukte“ zu entlarven. Letztlich geht es dabei aber um die kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft. Mit der „Dekonstruktion“ unliebsamer Begriffe soll es unmöglich gemacht werden, von Völkern auch nur zu sprechen.

Dabei ignorieren die Sozialwissenschaftler, daß es nicht nur einer verbreiteten Erfahrung der Menschen entspricht, daß die Völker sich in ihrem Verhalten unterscheiden, sondern daß es mittlerweile auch ein umfangreiches wissenschaftliches Datenmaterial aus der Kulturvergleichenden Psychologie dazu gibt. Es scheint vielmehr so zu sein, daß sich die Stereotypen als eine Art kollektiver Mittelwert aus den Erfahrungen vieler einzelner bilden.

Die Tatsache, daß Stereotypen statistisch mit der Wirklichkeit korrelieren, ist indessen so offensichtlich, daß trotz der Political Correctness in den 1990er Jahren in den USA unter dem Schlagwort „Stereotype Accuracy“ („Stereotypengenauigkeit“) eine Forschungsrich-tung entstand, die sich mit dem Realitätsgehalt der Stereotype befaßt. Die Beispiele des dabei führenden Psychologen Lee J. Jussim beziehen sich vor allem auf die Unterschiede zwischen Weißen und Schwarzen in den USA und den Unterschied zwischen den Geschlechtern. Als zutreffend gilt Jussim ein Stereotyp, wenn der Unterschied zur Wirklichkeit kleiner als ein Viertel der statistischen Standardabweichung (0,25 s) ist.

Es zeigt sich, daß die Korrelationen von Stereotyp und Wirklichkeit für Persönlichkeitseigenschaften bei den ethnisch-rassischen Stereotypen zwischen 0,53 und 0,77 und bei den Geschlechter-Stereotypen zwischen 0,66 und 0,90 betragen. (Korrelationen werden mit Zahlen zwischen 0 und 1 ausgedrückt, wobei 0 das völlige Fehlen eines Zusammenhangs und 1 eine völlige Übereinstimmung bedeutet.)

Die Stereotypengenauigkeit betrifft bei den Stereotypen über Weiße und Schwarze Merkmale wie zum Beispiel Freude am Tanzen, Enge der familiären Bindung, mathematische Begabung und Selbstbezogenheit, sowie bei den Geschlechter-Stereotypen Offenheit für Emotionen oder Aggressivität. Der Mittelwert beträgt bei den Rassen-Stereotypen 0,70 und bei den Geschlechter-Stereotypen 0,75. Das sind mittelstarke bis starke Korrelationen. Die Stereotypen stimmen also in einem beachtlichen Maß mit der Wirklichkeit überein. Zur Verdeutlichung: Eine Korrelation von 0,30 bedeutet bereits, daß die Menschen mit ihrem Urteil in knapp zwei Drittel, und eine von 0,50, daß sie in etwa drei Viertel der Fälle richtigliegen.

Bemerkenswert ist dabei, daß das allgemeine Stereotyp wesentlich besser abschneidet als die persönlichen Einschätzungen der Befragten, die nur eine Korrelation mit der Wirklichkeit von 0,39 beziehungsweise bei den Geschlechterunterschieden von 0,51 aufweisen. Offensichtlich ist es sein Charakter als eine Art kollektives Erfahrungswissen, der die Überlegenheit des Stereotyps begründet.

Jussim hat die Genauigkeit der Stereotypen auch mit der von sozialpsychologischen Theorien verglichen. Eine Meta-Analyse sozialpsychologischer Studien hat ergeben, daß nur 24 Prozent der Vorhersagen sozialpsychologischer Theorien durch Korrelationen von über 0,30 bestätigt wurden und nur fünf Prozent mit Korrelationen über 0,50. Die Korrelationen der Stereotype sind dagegen alle größer 0,50.

Man kann also ohne Übertreibung sagen, daß die landläufigen Stereotypen nicht nur der Urteilsfähigkeit der einzelnen, sondern auch den Vorhersagen der Sozialwissenschaft deutlich überlegen sind. Eine erstaunliche Rehabilitierung der so übel beleumundeten Stereotypen! Wie bezeichnend, daß deutsche Stereotypenforscher bis heute von dieser amerikanischen Entwicklung noch keine Kenntnis genommen haben.

 

Andreas Vonderach, Jahrgang 1964, ist Historiker und Anthropologe. Er war an verschiedenen norddeutschen Museen tätig und lebt heute als Buchautor und Publizist in Oldenburg. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über deutsche Anthropologie („Das Faust-Syndrom“, JF 33/12).

Andreas Vonderach: Die deutschen Regionalcharaktere. Psychologie und Geschichte. Husum, 2012.

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