© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/13 / 02. August 2013

„Niemand hat das Jugendamt gerufen“
Neue Pädophilie-Vorwürfe: Nach 30 Jahren debattieren die Grünen ihre Verstrickungen in die damalige Kinderschänder-Szene
Felix Krautkrämer

Die Mißbrauchsvorwürfe gegen die Grünen reißen nicht ab. „Ich glaube Daniel Cohn-Bendit kein Wort, wenn er seine Äußerungen zum Sex mit Kindern heute als Provokation, als reine Theorie hinstellt.“ Die Worte stammen nicht etwa vom politischen Gegner, sondern von einem Weggefährten des EU-Parlamentariers. In der vergangenen Woche fand Eckhard Stratmann-Mertens, Mitbegründer der Grünen und von 1983 bis 1985 sowie 1987 bis 1990 Bundestagsabgeordneter, klare Worte.

Bereits 1980 habe es innerhalb der Partei eine Gruppe gegeben, die sich Indianerkommune nannte. Diese habe an einigen Bundesparteitagen teilgenommen und sich als Kinderrechtsinitiative bezeichnet, berichtet Stratmann-Mertens, der die Grünen 1999 aus Protest gegen den Kosovo-Krieg der Bundeswehr verlassen hatte. In Wirklichkeit warben die Stadtindianer ganz offen für pädosexuelle Kontakte. Insgesamt zeigte sich der Ex-Grüne gegenüber dem WDR kritisch, was den Umgang der Grünen mit Pädophilen in den eigenen Reihen in der Frühphase der Partei betrifft. „Man hätte diese Leute viel früher rausschmeißen müssen“.

„Auf Parteitagen lagen dann teilweise Erwachsene rum, die mit Jugendlichen knutschten. Es war zum Kotzen. Aber aus einer falsch verstandenen Liberalität wurde da in den Anfangsjahren der Grünen nicht eingegriffen. Das grün-alternative Selbstverständnis lautete halt: Alles ist zunächst einmal erlaubt, was für sexuelle Befreiung steht.“ Heute sehe er dies sehr kritisch. Die Nachricht dürfte den Wahlkämpfern um Jürgen Trittin und Claudia Roth gar nicht gefallen. Zumal die Anschuldigungen nicht abreißen. Erst am Wochenende hatte die Welt am Sonntag von neuen Pädophilie-Vorwürfen berichtet. In den achtziger Jahren sei das damalige Landesvorstandsmitglied in Nordrhein-Westfalen, Hermann Meer, an sexuellen Übergriffen auf Minderjährige beteiligt gewesen, berichten gleich mehrere mutmaßliche Opfer.

Die Männer hatten Anfang der achtziger Jahre einen Teil ihrer Kindheit in einer von Meer geleiteten Wohngemeinschaft im nordrhein-westfälischen Kamp-Lintfort verbracht und berichteten von regelmäßigen sexuellen Übergriffen des Grünen auf dort lebende Jungen. Meer war 1979 und 1980 Vorstandsmitglied der nordrhein-westfälischen Grünen. Späte Kritik gibt es nun auch von Michael Vesper, Mitbegründer der Grünen und 1982 bis 1983 Sprecher des Landesvorstands in Nordrhein-Westfalen. Der heutige Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes blickt mit Schrecken auf die Gründungsphase zurück. „Wir haben die zu lange gewähren lassen. Niemand hat das Jugendamt gerufen oder die Erwachsenen wegen Kindesmißbrauchs angezeigt.“ Auch Vesper selbst wurde nicht aktiv. „Diese Versäumnisse betrachte ich heute als schwere Fehler, die zwar aus der Zeit heraus erklärt werden können, aber doch Fehler waren.“ Dennoch betont der ehemalige nordrhein-westfälische Bauminister, die Grünen seien weder damals noch heute eine Partei gewesen, „die irgend etwas mit Pädophilie am Hut gehabt hätte.“

Die politische Konkurrenz sieht das etwas anders. Die CDU-Politikerin Erika Steinbach forderte die Grünen auf, zu den Vorfällen offiziell Stellung zu beziehen. Das Pädophilie-Problem der Grünen werde offenbar immer größer. „Das Maß ist voll. Die Grünen müssen Konsequenzen ziehen, und die Opfer müssen gehört werden. In ihrem Interesse vor allem muß lückenlos aufgeklärt und zur Verantwortung gezogen werden“, verlangte sie. Dies müsse noch vor der Bundestagswahl im September geschehen. „In erster Linie aber muß sich diese Partei von denen distanzieren, die sexuellem Kindesmißbrauch eine selbsterfundene Entkriminalisierung angedeihen lassen wollten und dieses Verbrechen nicht nur verharmlosen, sondern auch noch gesellschaftsfähig machen wollten.“

Führende Politiker der Grünen hätten dies „mit ihren damaligen Plädoyers für eine ‘realistische Neuorientierung’ der Sexualpolitik“ angestrebt. Die von der Partei versprochene Studie über die eigene Vergangenheit läßt allerdings auf sich warten. 2014 soll sie vorliegen. (ho)

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