© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

Der Flaneur
Jetzt darf kein Schiff kommen
Bernd Rademacher

Dasselbe wie jedes Jahr zur Sommerzeit. Der Kanal ist nicht nur Verkehrsader, sondern auch das größte Freibad und dazu mit freiem Eintritt. Nachmittags steigen die Schüler in Scharen auf ihre Fahrräder und kommen ans Kanalufer. Bald liegt Handtuch an Handtuch. Aus dem Wasser schauen überall Köpfe. Sie sehen aus wie Bälle, die auf den Wellen tanzen.

Der Spaß ist nicht ungefährlich. Die Wasserstraße ist stark befahren. Die Lastkähne sind im Durchschnitt 80 Meter lang und acht Meter breit. Sie tragen mehr als tausend Tonnen Güter. Sand, Kies, Kabelrollen, Rindenmulch und vieles mehr. Manchmal auch Rotorblätter von Windkraftanlagen. Dann sieht man erst, wie groß diese Dinger sind.

Die Schiffer müssen vorsichtig fahren, wegen der Badenden. Die Schwimmer müssen aufpassen, damit sie nicht überfahren werden oder zwischen zwei Schiffe geraten. Fast jedes Jahr stirbt hier einer. Aber die Jugendlichen denken nicht an die Gefahr, sie haben Spaß im Wasser. Die Jungs suchen das Risiko.

Sie schwimmen vorbeifahrende Schiffe mit viel Tiefgang an und hängen sich an die niedrige Bordwand. „Pötten“ nennen sie das. Die Besten hangeln sich bis zum Bug, setzen sich auf den Anker und lassen sich triumphierend chauffieren. Manche werden vom Schiffshund oder einem Matrosen erwischt und müssen Federn lassen.

Als Königsmutprobe gilt das Springen vom Brückenbogen aus genietetem Stahl. Allein das Hochklettern ist riskant. Wer zur Straßenseite abrutscht, fällt vier, fünf Meter tief auf den Asphalt. Einer sitzt ganz oben, gut acht Meter über dem Wasser. Die Mädchen und Kumpels gucken, halten den Atem an. Jetzt darf kein Schiff kommen! Er zögert noch, wird angefeuert. Dann springt er. Aber er taucht nicht wieder auf. Unter den Brücken liegt manchmal gefährlicher Schrott auf dem Grund. Sie rufen und rufen nach ihm. Schon über zwei Minuten!

Endlich taucht der Schalk auf und lacht sich eins mit diebischer Freude. Die anderen sind erleichtert und sauer zugleich. „Du Arsch!“ lachen sie.

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